21. Februar 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Jacques Hétu

Jacques Hétu
Jacques Hétu
Eine Ode an die Freiheit. Nein, nicht die umtextierte von Schiller/Beethoven und mit Leonard Bernstein im Schatten der gerade überwundenen Berliner Mauer, sondern die von Paul Éluard (1895–1952): 1942 geschrieben und dann über und in ganz Frankreich verbreitet. Als 70 Jahre später Jacques Hétu (1938–2010) die Strophen mit dem (durch alle Lebensalter) wiederkehrenden Vers «J’écris ton nom» (ich schreibe deinen Namen) vertonte, entstand mit der 5. Sinfonie ein Werk für das 21. Jahrhundert – ein Werk, das allerdings erst (wieder)entdeckt werden muss. Denn Hétu, frankophoner kanadischer Komponist, starb wenige Wochen vor der Uraufführung, die Partitur blieb ein Geheimtipp. Sie erzählt in einer universellen, zeitgenössischen Tonsprache die Geschichte von Paris, dem deutschen Einmarsch und der Besatzung – und im Chorfinale vom nicht zu brechenden Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Die Einspielung von 2024 entstand zu einer Zeit, in der Freiheit und Selbstbestimmung an allen Ecken und Enden der Welt erneut und fundamental bedroht sind, von außen wie von innen. Eine Musik von brennender Aktualität, die sich dennoch nicht in Pathos ergeht, auch wenn hie und dort die eine oder andere Geste an das lange 19. Jahrhundert und gelegentlich sogar konkret an Wagner erinnert. Vielleicht aber sind es gerade diese Allusionen, die die Sinfonie auszeichnen und dem groß besetzten Orchester entgegenkommen. Hétu arbeitet dabei nicht mit Tricks aus der großen Kino-Kiste, sondern mit weiteren Bögen, kontrapunktischen Linien und einer die vier Sätze überspannenden Stringenz in Klang und Faktur. Und nur am Rande: Nicht das «doppelte» Orchester allein macht die Produktion so monumental, sondern die sehr genaue technische Umsetzung aller Aspekte der Komposition. Erst damit kann das Riesenensemble den «Druck» erhöhen. Musikalisch ein appellatives Meisterwerk – mit «letzten Worten», die allen Mahnung und Auftrag sein sollten.

Jacques Hétu. Sinfonie Nr. 5 op. 81
Toronto Mendelssohn Choir, Orchestre du Centre National des Arts du Canada, Orchestre symphonique de Québec, Alexander Shelley

Analekta AN 28890 (2024)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #143 – zeitgenössische Sinfonik