12. September 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Santoro / Goiás Philharmonic Orchesta

Santoro / Goiás Philharmonic Orchesta
Santoro / Goiás Philharmonic Orchesta
Wer eine Sinfonie mit einem ernsten Streicherfugato beginnt, hat eine doppelte musikhistorische Verpflichtung. Das scheint auch Cláudio Santoro (1919-1989) gespürt zu haben. Zwar geht er gegenüber Schostakowitsch (Sinfonie Nr. 5) ebenso eigene Wege wie dieser gegenüber Beethoven (op. 131). Und doch ist Santoros eigene 5. Sinfonie (1955) bei weitem nicht so gewichtig wie seine Sinfonie Nr. 7 (1959/60), die (soweit sich das rekonstruieren lässt) ein merkwürdiges Schicksal hatte. Denn ihr wurde zwar der 1. Preis bei einem nationalen Wettbewerb anlässlich der Feierlichkeiten zur Einweihung der mitten auf einem Hochplateu mitten im Nirgendwo neu gebauten Stadt Brasilia zuerkannt, die Uraufführung fand aber erst im Rahmen der Berliner Festspiele 1964 unter der Leitung des Komponisten statt.

Darüber hinaus unterrichtete Cláudio Santoro ab 1970 für einige Jahre Komposition und Dirigieren an der damaligen Musikhochschule Heidelberg-Mannheim. Dennoch hat sich hierzulande keine kontinuierliche Aufführungstradition seiner Werke entwickelt, im Gegenteil: Sein Name dürfte heute kaum noch bekannt sein. Insgesamt 14 Sinfonien schrieb Santoro zwischen 1940 und 1989 neben zahlreichen anderen Kompositionen – ein erstaunlich umfangreiches Œuvre, das neben seinen vielfältigen lehrenden wie administrativen Tätigkeiten entstand. Die brasilianische Musik des 20. Jahrhunderts ist jedenfalls ohne ihn nicht zu denken – vielleicht auch deshalb, weil Santoro stilistisch nie stehen blieb, sondern stets auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten war. Gleichwohl wirkt die «Brasilia» überschriebene 7. Sinfonie mit ihren vier Sätzen formal konservativ, volksmusikalische Elemente spielen allenfalls auf abstrakter Ebene eine Rolle. Mit hörbar großem Engagement eingespielt, fordern die Partituren Aufmerksamkeit ein und erzählen zugleich ein Stück moderner Geschichte des Landes.

Cláudio Santoro. Sinfonie Nr. 5 (1955); Sinfonie Nr. 7 (1959/60) «Brasília»
Goiás Philharmonic Orchestra, Neil Thomson

Naxos 8.574402 (2018)

https://open.spotify.com/intl-de/album/2KGWOSs265SWhtltp6Zhoc

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #125 – Brasilien