21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Johann Heinrich Rolle / Lukas-Passion

Johann Heinrich Rolle / Lukas-Passion
Johann Heinrich Rolle / Lukas-Passion
Es nötigt einem ziemlichen Respekt ab, wie das Label cpo seit vielen Jahren nicht nur zu Weihnachten, sondern auch zur Passionszeit das Repertoire erweitert. Denn während an vielen Orten, landauf, landab die beiden großen Passionen von Johann Sebastian Bach als «gesetzt» gelten (und ja: wohl jeder Chor mit geistlicher Ausrichtung möchte das einmal aufführen), da zeigen wenigstens die Einspielungen, was man sich alles entgehen lässt. In diesem Fall ist es eine Passionsmusik von Johann Heinrich Rolle (1716–1785), der in Magdeburg wirkte und in Hamburg bei der Telemann-Nachfolge nur knapp gegenüber CPE Bach den Kürzeren zog. Für mehr als zwei Jahrhunderte war dann Rolle nur wenig mehr als eine Randbemerkung in der Musikgeschichte – nicht unbedingt aus Ignoranz gegenüber der Johann Sebastian Bach nachfolgenden Generation, sondern auch, weil entweder die umfangreichen Partituren nicht erreichbar waren oder es an Spartierungen der Stimmensätze mangelte.

Rolle und seine Lukas-Passion von 1744 gehören schon einer Zeit an, die sich allmählich der Empfindsamkeit zuwandte. Große kontrapunktisch durchgearbeitete Nummern findet man nicht, dafür aber Wendungen, die nicht mehr vollständig dem barocken rhetorischen Affekt folgen, sondern mit einer gewissen Reflexion ins Innere vordringen. Allerdings bietet das Lukas-Evangelium selbst kaum ins Große gesteigerte dramatische Szenen und damit auch kaum eine Chance zum intensiven Wechselspiel mit den Soliloquenten und den Turbae Chören. Umso wichtiger ist in den 90 Minuten die Folge von Rezitativen, Arien und Chorälen, wobei ein eher betrachtender Duktus angeschlagen wird. – Die Produktion trifft in dieser Hinsicht den Kern der Komposition, die übrigens damals in Magdeburg über vier Jahre hinweg in den Stadtkirchen aufgeführt und später noch einmal wiederaufgeführt wurde. Fließend, leichtfüßig in den Gesten, denkt man eher an symbolische Darstellungen des christlichen Lamms, weniger an den menschlichen Schmerz des Karfreitags. Ausgewogen und engagiert realisiert das Solisten-Ensemble mit nur wenigen Abstrichen das Werk: Petrus wie auch Jesus fehlt es zwar ein wenig an «Sonorität» – andererseits waren es vor 2000 Jahren auch keine «altersreifen» Protagonisten. Ein musikalisch interessanter Baustein.

Johann Heinrich Rolle. Lukas-Passion (1744)
Siri Thornhill (Sopran), Elvira Bill (Mezzo), Markus Schäfer (Tenor), Hugo Hymas (Tenor), Thilo Dahlmann (Bass-Bariton), Matthias Vieweg (Bariton), Dora Pavlikova (Alt), Kölner Akademie, Michael Alexander Willens

cpo 555 525-2 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #113 – Passionsmusiken