7. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Arnulf Herrmann / Tour de Trance

Arnulf Herrmann / Tour de Trance
Arnulf Herrmann / Tour de Trance
Wer noch nie Musik von Arnulf Herrmann (*1968) gehört hat, wird hier mit Sicherheit verblüfft werden. Denn vom ersten Takt an bricht sich eine Sprache Bahn mit originellem Wortschatz und einer ganz eigenen musikalischen Grammatik. Keine unbestimmt wabernden flächigen Verläufe, sondern konkret greifbare motivische Gestalten, die zudem nicht bloß wiederholt, sondern auch kompositorisch «durchgeführt» werden – sich verändern, entwickeln, zurückkehren, neu ansetzen. Sie deuten und unterstreichen in den Gesängen am offenen Fenster (2014) die sich aus Worten und Silben konstituierenden Verse von Händl Klaus – vokal und instrumental geformt aus teils kantig-griffigen Blöcken, teils mikrotonal zerfließenden Feldern, vielfach auch in tief atmendem Pulsieren. In bloßen Formeln erstarrt nichts, auch nicht die zerklüftete und sich dennoch über weite Bögen organisch entfaltende Gesangslinie.

Dass die Musik von Arnulf Herrmann auch durch ihre brillante, vorzugsweise erdig dunkle Instrumentation wirkt (und eben nicht überredet) zeigt die Tour de Trance nach einem Text von Monika Rinck. Ursprünglich für Stimme und Klavier geschrieben (2017/22), entwickelte Herrmann aus dem Material ein dichtes viersätziges Orchesterwerk (2020), das im letzten Satz zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt. Die Farbigkeit der vertikalen Kaskaden und die suchenden Bewegungen der horizontalen Wellen zwingen dabei zu nichts, sondern fordern unmerklich Geistesgegenwart – eine Aufmerksamkeit, die in keinem Moment enttäuscht wird. Denn die Spannung wird gehalten, längere sinfonische Zusammenhänge mit höchster Souveränität gestaltet. Die live mitgeschnittenen Aufführungen von der musica viva des Bayerischen Rundfunks sind nicht minder fulminant, der extrem anspruchsvolle Vokalpart hat in Anja Petersen eine ideale Interpretin gefunden. Und ja: es sind wirklich Werke fürs Repertoire – wenn man sich denn traut!

Arnulf Herrmann. Drei Gesänge am offenen Fenster für Sopran und Orchester (2014); Tour de Trance für Sopran und Klavier (2017/22);Tour de Trance für Orchester mit Sopran (2020)
Anja Petersen (Sopran), Björn Lehmann (Klavier), Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Stefan Asbury, Pablo Heras-Casado

BR Klassik 900641 (2014, 2021, 2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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