Eine Introduktion, zwei gewichtige instrumentale Sätze, vier Lieder. Thomas Larcher (*1963) hat mit Alle Tage (2010/15) ein bedeutendes Werk mit mehr als 45 Minuten Aufführungsdauer geschaffen, das formal scheinbar zwischen den Gattungen steht. Dabei definiert er es im Untertitel als «Symphonie für Bariton und Orchester» – zu Recht, denn die Anlage der Partitur erinnert an Gustav Mahlers vokal angereicherte «Wunderhorn»-Sinfonien, greift sogar hie und da den von dort vertrauten Duktus auf. Einen Duktus, der die Worte und Verse mit der Musik zusammendenkt, sie aufeinander bezieht, kommentiert und verstärkt. Larcher greift dabei zurück auf frühe und noch immer gegenwärtige Dichtungen von Ingeborg Bachmann und schreibt dazu eine berückend unmoderne Melodik, die hineinzieht und berührt. Nach Anrufung des großen Bären, Mein Vogel und Heimweg folgt indes eine größere rein instrumentale Interpolation: die komplette Übernahme von Red and Green (2011), die Freiräume schafft und die Konzentration erneut vor dem letzten Lied (Alle Tage) bündelt – und sich trotz des späteren Rückgriffs auf die nagend pulsierenden Basstöne doch nicht vollständig einfügt (in Kombination mit dem Klangbild und dem charakteristischen Dur-Moll-Wechsel hat mich ein Teil von Remembrance sofort an den Filmscore zu einer der Schlüsselszenen in Star Trek 9, Der Aufstand (1998) erinnert – aber das dürfte eher einer der vielen musikalischen Zufälle sein).
An Querbezügen mangelt es auch nicht beim Violinkonzert (2008/09), dessen erster Satz (trotz e-Moll) deutlich auf das Soggetto des Contrapunctus I aus J.S. Bachs Kunst der Fuge verweist und Arvo Pärts Tintinnabuli-Stil fast wie ein Zitat aufgreift. Dass das Solo alsbald mit raschem Tempo und volksmusikalischen Elementen (aus dem ungarisch-rumänischen Raum) in einen diametralen Kontrast einschwenkt, ist dramaturgisch geschickt, erscheint aber auch beliebig – wie der zweite Satz, in dem anfänglich Bachs Ciaccona bemüht wird, am Ende aber Glissandi stehen. So entpuppt sich das Konzert eher als ein Stück Musik über Musik, während mir Lacher in der Vokalsinfonie mit seinem unepigonalen Rückgriff auf verschiedene Mahlerismen authentischer im Ton wirkt. – Rundum gelungen ist die Einspielung beider Werke: Alle Tage mit dem unglaublich präsenten Bariton von Adrian Eröd aus dem Goldenen Saal des Wiener Musikvereins und unter der Leitung von Hannu Lintu (2019), das Violinkonzert mit dem frei gestaltenden Benjamin Beilman aus dem Auditorium Grafenegg mit Pierre Bleuse (Sommer 2020). Larcher als virtuoser Meister des Klanges macht es freilich dem Tonkünstler Orchester auch leicht, sich gut in Szene zu setzen.
Thomas Larcher. «Alle Tage» Sinfonie für Bariton und Orchester (2010/15); Konzert für Violine und Orchester (2008/09)
Adrian Eröd (Bariton), Benjamin Beilman (Violine), Tonkünstler Orchester, Hannu Lintu, Pierre Bleuse
Tonkünstler TON 1006 (2019)