21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ukrainian Piano Quintets

Ukrainian Piano Quintets
Ukrainian Piano Quintets
So leicht man sich heute tut mit nationalen Identitäten, die im 19. Jahrhundert gewachsen sind und in staatliche Strukturen mündeten, so schwer fällt dies für viele Kulturen im östlichen Europa, die durch das russische Zarenreich und danach nochmals im Stalinismus unterdrückt wurden. Erst die unverhoffte späte Selbstbestimmung seit den 1990er Jahren führte zum Anknüpfen an ältere Traditionen und damit auch zur Suche nach dem eigenen Erbe und eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Dass diese Suche nicht erst seit Februar 2022 bedroht wird, zeigt sich aktuell am breiten Strom des Dnipro, aber auch in anderen Grenzregionen. Umso mehr gilt es, genau hinzuhören – so wie bei diesem Album, das bereits Ende 2020 aufgenommen wurde und im Dezember 2021 erschien.

Eingespielt wurden drei Werke von Komponist:innen dreier Generationen. Die mit Abstand älteste wird von Boris Lyatoshynsky (1895–1968) vertreten, der besonders als Sinfoniker hervorgetreten ist, vor allem durch seine 1951 entstandene Sinfonie Nr. 3 op. 50 (1951), deren originaler Titel «Der Friede wird den Krieg besiegen» sogleich von der sowjetischen Zensur kassiert wurde – schon damals wurde die Losung offenbar für eine Utopie gehalten, die nicht in die Ideologie passte. Sein Klavierquintett mit einer Spielzeit von rund 40 Minuten atmet mit seinem posthochromantischen Gestus noch deutlich Luft des 19. Jahrhunderts: Schwer und beim ersten Hören keineswegs leichgängig, benötigt es Zeit und offene Ohren, um zu verstehen, warum diese Musik 1942 so noch möglich war und sein musste. Valentin Silvestrov (geb. 1937) widmete sein Klavierquintett (1961) wiederum Lyatoshynsky. Auch hier zeigt sich, wenn auch anders, ein suchendes Werk; die drei Sätze sind mit Prélude, Fugue und Aria überschrieben. Minimalistische, ätherische Töne schlägt indes Victoria Poleva (geb. 1962) in ihrem Simurgh-Quintet (2000) an. Eine Musik, die sich auf eigene Weise entgrenzt und das Streichquartett bisweilen in den Farben eines Gambenconsort erscheinen lässt. – Das um Iryna Starodub versammelte Ensemble spielt mit saftigem Ton und interpretatorischer Verve.

Boris Mikolayovich Lyatoshynsky. Ukrainian Quintet op. 42 (1942, rev. 1945); Valentin Silvestrov. Klavierquintett (1961); Victoria Poleva. Simurgh-Quintet (2000, rev. 2020)
Bogdana Pivnenko (Violine), Taras Yaropud (Violine), Kateryna Suprun (Viola), Yurii Pogoretskyi (Violoncello), Iryna Starodub (Klavier)

Naxos 8.579098 (2020)

HörBar<< Josef Schelb<< Michael G. Fischer

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #059 – Klavierkammermusik