19. April 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch
Stölzel / Ein Lämmlein geht

Stölzel / Ein Lämmlein geht

Schon lange ist die mitteldeutsche Kirchenmusik des Barock nicht mehr nur mit dem Namen Bach, Johann Sebastian Bach, verbunden – zumindest auf Tonträ-ger. Das ist nicht nur ein Verdienst des Vereins «Mitteldeutsche Barockmusik», der viele Aktivitäten bündelt, sondern am Ende auch jedes einzelnen Forschers, Musikers, Ensembles. Vor allem beim Label cpo sind über viele Jahre (besser: drei Jahrzehnte) hinweg zahlreiche Werke auch auf CD erschienen – in guten, in der Regel sogar hervorragenden Einspielungen. Bei Gottfried Heinrich Stölzel (1690–1749) denke ich besonders an die wohl schon legendäre Produktion seiner Brockes-Passion

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Buxtehude / Membra Jesu Nostri

Buxtehude / Membra Jesu Nostri

Merkwürdig. Auch auf dem Backcover dieses wunderbaren und kompetenten Doppelalbums ist schon wieder von der «Musik vor Bach» die Rede. Ganz so, als wäre alles, was vor 1685, 1723 etc. entstanden ist, nur historisches Beiwerk. Wann kommt endlich das Selbstbewusstsein der A&R-Abteilungen, das frühe Barock (man entschuldige diese indifferente Einordnung) endlich in seiner musikalischen Einmaligkeit und Vielfalt angemessen wahrzunehmen? Man muss dafür nicht die Musikgeschichte in all ihren Verästelungen studieren. Wer aufmerksam zuhört, erkennt sofort, dass hier eine ganz eigenständige und vor allem schöpferisch eindrucksvoll originelle Klangwelt bis heute etwas

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Thomas Selle / Johannes-Passion

Thomas Selle / Johannes-Passion

Dass die Musik von Thomas Selle (1599–1663) so selten gespielt bzw. gesungen wird, hat verschiedene Gründe. So haben sich zwar schon seine Zeitgenossen sehr anerkennend gegenüber dem Komponisten und seinem Schaffen geäußert; einer weiteren Rezeption stand allerdings die vielfach nur handschriftliche Überlieferung der Werke entgegen (und dies bis heute). Dabei hatte er seit 1641 in der freien Hansestadt Hamburg eine auch organisatorisch wichtige Position inne, die im 18. Jahrhunderts dann repräsentativ durch Georg Philipp Telemann und Carl Philipp Emanuel Bach bekleidet wurde. Es mag gleichwohl überraschen, dass Selle, in Leipzig

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György Ligeti / Cathy Krier

György Ligeti / Cathy Krier

Bei diesen Études hält man noch immer den Atem an. So neuartig, so frisch und so vielschichtig zeigen sie den Meister der Zwischenklänge auf dem Höhepunkt seines Alterswerks – und dies auf dem Klavier, das nur unter sehr bestimmten Umständen und Manipulationen Schwebezustände erlaubt. Ligeti, der selbst nie als Pianist hervortrat, hat es vielmehr verstanden, aus der Beschränkung eine Tugend zu machen und andere Klangparameter in den Mittelpunkt zu rücken. Und so begegnet man in den drei Bänden mit insgesamt 18 Études bis heute keiner Alltagskost, sondern viel eher –

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Richard Danielpour / Stefano Greco

Richard Danielpour / Stefano Greco

Werkkommentare von Komponisten können tief wirken oder auch nur banal sein; oftmals führt erst ein gemeinsames Gespräch zu den wahren Hintergründen eines Werkes oder seiner Bezeichnung. Selbst ein auktorialer Text vermag nicht recht zu überzeugen, wenn er nur Dinge benennt, die ohnehin den gedruckten Noten zu entnehmen sind. Ein wenig geht es mir so beim Lesen des Booklets dieses Albums mit Werken jüngeren Datums von Richard Danielpour (*1956), der allerdings zu seinen Études (2011/12) den rechten Blickwinkel einzunehmen weiß: «Each of these études was written with the idea of a

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Vassos Nicolaou / Tamara Stefanovich

Vassos Nicolaou / Tamara Stefanovich

Auf Zypern geboren und seit seinem Studium in Köln, hat Vassos Nicolaou (*1971) einen großen Korb von insgesamt 15 Etüden komponiert. Obwohl durchnummeriert, handelt es sich um vier Sets unterschiedlichen Umfangs, die über acht Jahre hinweg zwischen 2008 und 2016 entstanden (Nr. 1–5, 6–8, 9–11, 12 und 13–15). Keine Etüden im engeren oder auch nur historischen Sinn, sind sie dennoch von markanten technischen Anforderungen geprägt, die äußerste Präzision im Rhythmus verlangen – und doch hörbar Raum zum eigenen Gestalten geben. Darin zwar den Études von György Ligeti ähnlich, verfolgt Nicolaou

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Koharik Gazarossian / Nare Karoyan

Koharik Gazarossian / Nare Karoyan

Man merkt diesen Etüden kaum an, dass sie aus dem Jahr 1958 stammen. Eher könnte man sich viele der insgesamt 24 Nummern um die Jahrhundertwende (1900) vorstellen – so deutlich ist der Bezug zur romantischen Tradition, so klar der volksmusikalische Einschlag. Allerdings wird man aus der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts wohl kaum etwas von der armenischen Klangkultur finden, als andernorts überhaupt erst damit begonnen wurde, dem drohenden Verlust des eigenen musikalischen Erbes mit der Dokumentation auf Phonographen-Rollen zu begegnen. Doch auch in anderer Beziehung stellen die «Études» von Koharik

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Philip Glass / Vicky Chow

Philip Glass / Vicky Chow

Nur wenige Komponisten beherrschen die Kunst, Ähnliches oder gar Gleiches in unterschiedlichen Farben und Facetten zu sagen und so als immer wieder neu zu präsentieren. Anton Bruckner wurde diese vergiftete Würdigung fälschlicherweise zuteil, und man muss wohl noch ein paar Jahre warten, bis sich dieses Urteil auch mit Blick auf die Musik von Philip Glass verflüchtigt. Bis es soweit ist, darf man sich wundern, wie souverän es dem Altmeister des Minimalismus gelungen ist, selbst mit minimalem Aufwand schöpferisch tätig zu sein. Die insgesamt zwanzig Etüden (in zwei Folgen à zehn)

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Winterreise / Benjamin Appl

Winterreise / Benjamin Appl

Was für eine Intensität. Benjamin Appl denkt und singt Schubert Winterreise vom ersten Ton an als ein Psychogramm des Wanderers, der seine Emotionen, sein Innerstes auf den Lippen trägt. Puristen des notierten Urtextes oder des gepflegten Kunstliedes mögen sich dabei an manchen Stellen stören, wenn Appl bisweilen Töne zerbrechlich wirken lässt, unvermittelt in Sprechgesang verfällt, in sich versinkt oder aufbegehrt. Auch James Baillieu setzt am Klavier immer wieder eigene Akzente in Artikulation und Phrasierung. Ist diese Winterreise womöglich allzu frei in der Gestaltung? Wie so oft im Leben kommt es

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Winterreise / Arttu Kataja

Winterreise / Arttu Kataja

Eine Seite im Booklet, weniger noch: eine einzige Frage reicht aus, um der Aufnahme vor dem Hintergrund von mehr als 300 derzeit verfügbaren Einspielungen der Winterreise mit Sympathie zu begegnen: «Why add a new recording of this song cycle to such a comprehensive spectrum of performances?» Die Antwort fällt nicht minder klug aus: Der Liederzyklus sei so reich und mehrdeutig, dass jede Interpretation einzigartig und legitim wäre. Den argumentativen Umweg hätte man freilich nicht beschreiten müssen. Denn Arttuu Kataja, der aktuell an der Staatsoper Unter den Linden unter Vertrag steht,

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Winterreise / Joyce DiDonato

Winterreise / Joyce DiDonato

Eine wirklich relevante Frage stellt Joyce DiDonato: «Aber was ist mit ihr?» Ihr bald folgender Verweis auf Charlotte in Goethes Werther (auch hier bleibt alles weitere unklar) mag nahe liegen – aber so richtig will all das nicht aufgehen. Natürlich sollte Schuberts Winterreise allen weiblichen Stimmen nicht verwehrt bleiben – das Setup aber sollte man sich nicht unnötig verkrampfen. Denn warum sollte der einsame Wanderer im 21. Jahrhundert nicht auch eine Wanderin sein? Dann muss man auch nichts umständlich spiegeln, fasste doch Wilhelm Müller eine menschlich universelle Gefühlswelt in Worte.

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Winterreise / Benjamin Bruns

Winterreise / Benjamin Bruns

Bereits vor zwei Jahren erschien diese Einspielung der Winterreise mit Benjamin Bruns. Aufgenommen wurde sie im Februar 2018 im Katharinensaal der Hochschule für Musik und Theater Rostock – ein mittelgroßer Saal, der sich wohl bestens für Liederabende vor Publikum anbietet. Für eine Audio-Produktion kann solch eine Räumlichkeit, zumal im leeren Zustand, allerdings auch zu einer Forcierung verleiten, obwohl die Gattung «Lied» doch der Idee nach eine sehr private ist. Zuhause in der bürgerlichen guten Stube oder im Salon bahnte sich das Lied erst langsam einen Weg in den Konzertsaal: zunächst

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