10. Oktober 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Diego Ortiz – Trattado de Glosas

Diego Ortiz – Trattado de Glosas
Diego Ortiz – Trattado de Glosas
Das Cover erinnert wieder einmal daran, dass man in früheren Zeiten zur Seefahrt nicht nur ein ordentliches Schiff und guten Wind, sondern auch eine gehörige Portion Mut benötigte: um generell den Meeren zu trotzen, aber auch, um bei einer steifen Brise in die Wanten zu gehen, um die Takelage zu sichern. So schön gewandet wie auf dem Cover (ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Vittore Carpaccio) dürften die jungen Seeleute aber vermutlich nicht gewesen sein. Das Bild verweist zum einen zeitlich auf den jungen Diego Ortiz (1510–1570), zum anderen auf die Kunstfertigkeit der hier eingespielten Werke. So wie bei der wahren «Seemannschaft» viele Knoten gelegt werden müssen, so geht es im Trattado de Glosas von 1553 um die Kunst der musikalischen Diminution.

Schon mehrfach wurde sich der darin versammelten Stücke angenommen – nicht nur wegen ihrer kompositorischen Qualität, sondern auch weil sie ein eigenes systematisch organisiertes Kompendium darstellen. Sie beweisen, wie enzyklopädisch bereits im mittleren 16. Jahrhundert gedacht wurde, wie die klingenden Dinge geordnet wurden und erst durch die strenge Ordnung ihre Freiheit erlangten. Die wahre Lust an den Werken wird sich möglicherweise erst mit den Noten in der Hand einstellen – aber auch so ist das Album ein Hinhörer durch das Ensemble Les Basses Reunies und die Verwendung von unterschiedlichen Violen durch alle Stimmlagen und in unterschiedlichen Stimmungen, ganz nach den Erfordernissen der Musik. So viel wunderbare Sonorität ist nur selten zu hören.

Diego Ortiz. Trattado de Glosas
Diego Ortiz. Recercadas del Trattado de Glosas (1553); Luis Milan. Fantasia I; Fantasia XIII; Antonio de Cabezón. Diferencias sobre «La gallarda milanesa»; Diferencias sobre «El Canto del Caballero»; Tomás Luis de Victoria. O Magnum Mysterium
Les Basses Reunies, Bruno Cocset

Alpha ALP 563 (2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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