SchattenrisseDieses Doppelalbum ist noch immer aktuell. Die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie Schönebeck unter der Leitung von Jan Michael Horstmann, die im Hinterland Sachsen-Anhalts eher im Stillen wirkt, hat hier Musik von sechs Komponist:innen unterschiedlicher Nationalität eingespielt, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Ob in Flammen aufgegangen, verboten und vergessen oder durch überstürzte Emigration einer kontinuierlichen Aufführungstradition beraubt: Hier werden ganz unterschiedliche Schicksale gestreift und musikalisch wiederbelebt. So etwa die wohl jedes Neujahrskonzert bereichernde Spanische Phantasie des bereits 1933 nach Argentinien emigrierten Benno Uhlfelder (1868-1946) (sein einstiger Bero-lina-Verlag dürfte hier und da noch bekannt sein) oder die inzwischen wieder häufiger zu hörende Suite en miniature op. 1 von Vítězslava Kaprálová (1915-1940), die man wohl als eine der großen unerfüllten Hoffnungen des 20. Jahrhunderts bezeichnen kann (sie starb unter ungeklärten Umständen in einem Internierungslager). Ob verbrannt, verboten und vergessen oder durch überstürzte Emigration einer kontinuierlichen Aufführungstradition beraubt: Hier werden ganz unterschiedliche Schicksale gestreift und musikalisch wiederbelebt.
Auf der anderen Seite des Rheins standen Komponisten wie Maurice Jaubert (1900–1940), der einer Kriegsverletzung erlang, wie auch Darius Milhaud (1892–1974), der sich früh in die USA übersiedeln konnte. Aber auch in der Sowjetunion litten Komponisten wie der Jazzer Alexander Tsfasman (1906–1971), der sich wegen der anhaltenden unklaren und wechselhaften Verhältnisse zurückzog, wie auch Nikolaj Roslavets (1881–1944), der schon 1934 verboten wurde und dessen Œuvre fast systematisch verschwand (während er sich in den letzten Lebensjahren als Tagelöhner verdingte). Insofern engagiert sich diese Produktion für Komponist:innen und ihre Werke aus drei, eher vier Nationen und macht damit auf ein gesamteuropäisches Phänomen aufmerksam – auch wenn das «Vergessen» jeweils andere naheliegende Gründe hatte. Bleibt die Frage nach der Interpretation. Die Antwort fällt unentschieden aus, dann die Produktion entstand unter Corona-Bedingungen im Tolberg-Saal. Man spürt aber in jedem Stück ein ernsthaftes Engagement. Und so empfiehlt sich das Doppelalbum auch als eine Form gelebter Erinnerungskultur.
Schattenrisse. Orchesterwerke verfemter Komponisten
Benno Uhlfelder. Sangre Torera (Spanische Phantasie); Maurice Jaubert. Suite aus der Musik zum Film «Quatorze Juillet»; Vítězslava Kaprálová. Suite en miniature op. 1; Darius Milhaud. Le Carnaval de Londres op. 172; Alexander Tsfasman. Jazz-Suite für Klavier, Streicher & Schlagzeug; Nikolaj Roslavets. Symphonie de chambre (1934/35)
Sofja Gülbadamova (Klavier), Mitteldeutsche Kammerphilharmonie Schönebeck, Jan Michael Horstmann Querstand VJKJ 2014 (2020)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.