Ungewollt verbindet sich mit jeder «Neunten Sinfonie» ein gewisser Mythos, ein höherer Anspruch – an den Komponisten, die Ausführenden wie auch an das Auditorium. Das gilt nicht nur für Bruckner und Mahler, sondern auch für Schönberg, der diesen Mythos überhaupt erst genährt hat: «Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. […] Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.» Ein gewagter Satz, denn er berücksichtigt nur die offizielle Zählung, nicht aber die Anzahl der Werke selbst (bei Bruckner ist dies klar, bei Mahler kann wohl das Lied von der Erde als Sinfonie mitzählen). Ohnehin ist es ein Vorrecht der Nachgeborenen, so und nicht anders zu mystifizieren. Von Philippe Chamouard (*1952) darf man freilich noch mehr erwarten – seine Homepage stagniert allerdings seit 2019, so dass über den aktuellen Stand seines Œuvres keine Klarheit herrscht.
Ob Philippe Chamouard dem Mythos gerecht wird oder ihn für seine Komposition überhaupt in Betracht gezogen hat, darf allerdings bezweifelt werden angesichts seiner eigenen Schilderung der Entstehung im Booklet und der Partitur, die hier vom Philharmonischen Orchester der zentralrumänischen Stadt Brasov (Kronstadt) realisiert und eingespielt wurde. Eine fatale Konstellation: Einerseits braucht man eine Einspielung, um sich Klarheit über das Ergebnis zu verschaffen, andererseits wird dafür ein Orchester engagiert, das sich der Aufgabe nur mit überschaubarem Zeitaufwand widmen kann. Was hört man also? Zunächst einmal scheint Chamouard hörbar der Sinfonik Gustav Mahlers verpflichtet, ohne diese zu erreichen. Dazu gibt es in den vier Sätzen zu viele Pausen und Absätze, die unverbunden bleiben. Zwar ist der Aufnahme ein gewisser Wille zur guten und professionellen Umsetzung anzuhören, aber auch die über allem schwebende Frage nach der Sinnhaftigkeit – denn kaum ein Takt scheint unmittelbar und mit drängender Intensität für sich zu sprechen. Die einzelnen Motive und Konstellationen erscheinen mir interessant und gut instrumentiert, aber eine «Sinfonie» entsteht daraus nicht. Warum ausgerechnet mit dem Toskanischen Walzer und dem Canadischen Marsch «kleinere» Werke als Ergänzung drangehangen werden, bleibt fragwürdig, zumal diese ins Unverbindliche abgleiten (aber interpretatorisch viel besser zu fassen sind).
Philippe Chamouard. Escales
Sinfonie Nr. 9 (2009/11); Valse Toscane (2019), Canadian March (2018)
Brasov Philharmonic Orchestra, Christian Orosanu
Indésens Calliopé Records IC 021 (2023)
- Dvořák / Nathalie Stutzmann
- Tüür / Paavo Järvi
- Bruckner / Tonhalle-Orchester Zürich
- Mahler / Philipp von Steinaecker
- Philippe Chamouard / Christian Orosanu