19. September 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Hans Werner Henze / Mozarteumorchester

Hans Werner Henze / Mozarteumorchester
Hans Werner Henze / Mozarteumorchester
Es sind wirklich aufregende Henze-Raritäten vom Rande, die hier entdeckt werden können. Was freilich überrascht, denn die eine oder andere großbesetzte Partitur wurde noch immer nicht eingespielt, von nochmals anderen Werken (etwa den Streichquartetten) sind ältere Aufnahmen nicht (mehr) verfügbar, weil längst vergriffen oder im Streaming unzugänglich. Was von diesem «grünen» Album des Mozarteumorchesters also bleibt, ist einmal mehr der Charme des «Neuen». Wer aber von Henze, seiner engagierten Musik und politischen Ästhetik nicht viel oder noch nichts weiter gehört hat, könnte auf eine trügerische Fährte geführt werden: Jugendwerke und Auftragsstücke haben eben eine ganz andere Dynamik.

Das gilt auch für die drei Orgelsonaten KV 336c, KV 67 und KV 328 von Wolfgang Amadeus Mozart, die Henze 1991 anlässlich des 200. Todestages des Komponisten (und nicht «anlässlich des 200. Jubiläumsjahres», wie es im Booklet pietätlos heißt) komplett neu instrumentiert hat. Für das Scharoun-Ensemble der Berliner Philharmoniker entstanden und als geschlossenes Triptychon angeordnet, verwendet Henze eine sehr bunte und rare Besetzung mit Bläsern, Streichern, Harfe und Gitarre (darunter eine Viola d’amore und eine Oboe d’amore), die einer Aufführung geradezu im Wege steht. Dennoch ist das Stück so hinreißend instrumentiert, dass man sich fragt, wieviel hier eigentlich arrangiert wurde. – Einen Schritt weiter ging Henze mit Il Vitalino Raddoppiato (1977), bei dem er für die Salzburger Festspiele (und Gidon Kremer) die bekannte Chaconne von Tomaso Vitali bearbeitete, erweiterte und überformte; es handelt sich um ein fast 30-minütiges großartiges «Lehrstück» über die Kunst, barocke Musik schöpferisch reflektierend in die Gegenwart zu übertragen. – Am Anfang des Album steht freilich eine Sensation: die Ersteinspielung von Henzes Konzertmusik für Violine und kleines Kammerorchester aus dem Kriegsjahr 1943. Angeblich zu Weihnachten jenes Jahres im Waschraum der Staatsmusikschule Braunschweig geprobt, kann es nie zur Aufführung. Die Partitur verblieb bei Henzes Schulfreund Kurt Stier, der sie still bewahrte; erst im Nachlass kam das Werk wieder zum Vorschein. Der Titel erinnert nicht von ungefähr an den Hindemith der frühen 1930er Jahre – zumindest im Kopfsatz ist das Studium «erhältlicher» Partituren verblüffend deutlich zu hören. Die beiden anderen Sätze gehen andere Wege: ein jazz-inspirierter, im Ausdruck bluesähnlicher langsamer Satz und ein Finale, das bereits nach Vivaldi und Italien schmeckt. So disparat das auch klingen mag: Es ist ein Wurf – und der gehört in den Konzertsaal.

Hans Werner Henze. Konzertmusik für Violine und kleines Kammerorchester (1943), Il Vitalino Raddoppiato (1977); 3 Mozartsche Orgelsonaten für 14 Spieler (1991)
Ziyu He (Violine), Mozarteumorchester Salzburg, Lin Liao

Berlin Classics 030 3021BC (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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