24. August 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Bacewicz & Co. / Sinfonia of London

Bacewicz & Co. / Sinfonia of London
Bacewicz & Co. / Sinfonia of London
Mit „Musik für Streichorchester“ verbinde ich leider noch immer einen bestimmten Klang, der mich bereits Mitte der 1980er Jahre beim Aufbau der eigenen Schallplatten-Sammlung (und des gehörten Repertoires) geradezu körperlich irritierte. Es war damals die unsägliche Mischung aus einem im Promenadenkonzert (gefühlt) dauerpräsenten kleinen Korpus von Serenaden, die mit selbstbewusster Schlampigkeit eher exekutiert denn interpretiert wurden. Die Streicher hatten damals meist einen saftigen, allerdings stark oberstimmenlastigen Sound; an eine Differenzierung von Dynamik und Agogik war kaum zu denken. Ich fragte mich, warum das so klingen musste, zumal bei Werken mit hinzugezogenen Bläsern sich die Orchester gänzlich anders präsentierten.

Wenige Jahrzehnte später ist zumindest unter Kennern bekannt, dass das Streichorchester-Repertoire weit mehr (viel mehr!) umfasst als bloß die zwei oder drei geläufigen Serenaden und ein ins Tutti übersetzte Souvenir de Florence. Auch klanglich hat sich aufgrund der Erkenntnisse in der historischen Aufführungspraxis etwas getan: Die Faktur der Werke wirkt heute grundsätzlich aufgehellter und analytischer durchdacht, Melodien und Rhythmen werden individualisiert und zugespitzt. In diese Richtung geht auch das aktuelle Album der Sinfonia of London unter der Leitung von John Wilson. Und dennoch: Muss man das Oktett von George Enescu fürs Tutti bearbeiten, wo es doch ein Meer von originären Partituren zu entdecken gibt? Dabei macht es die Produktion mit den Harmonies du Soir von Eugène Ysaÿe vor: Ein Werk, das man einfach hören muss, und das in seiner Art (Streichquartett und Streichorchester) ein wenig an die Fantasia on a Theme of Thomas Tallis von Vaughan Williams anknüpft. Und schließlich das Concerto von Grazyna Bacewicz (1909–1969), das sich in letzter Zeit zu Recht einer eigenen kleinen Renaissance erfreut. Dass Wilson mit seiner Sinfonia einen eher traditionellen Ton bevorzugt, schlägt sich zwar nicht negativ auf die Produktion nieder, macht aber deutlich, wieviel ungehobenes Potenzial in allem streckt.

George Enescu. Oktett op. 7 (1900) (Arr. John Wilson, Charlie Lovell, Philip Nelson); Eugène Ysaÿe. Harmonies du Soir op. 31 für Streichquartett und Streichorchester (1922/24); Grazyna Bacewicz. Concerto for Strings (1948)
Sinfonia of London, John Wilson

Chandos CHSA 5325 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #124 – Sinfonisches