Wenige Jahrzehnte später ist zumindest unter Kennern bekannt, dass das Streichorchester-Repertoire weit mehr (viel mehr!) umfasst als bloß die zwei oder drei geläufigen Serenaden und ein ins Tutti übersetzte Souvenir de Florence. Auch klanglich hat sich aufgrund der Erkenntnisse in der historischen Aufführungspraxis etwas getan: Die Faktur der Werke wirkt heute grundsätzlich aufgehellter und analytischer durchdacht, Melodien und Rhythmen werden individualisiert und zugespitzt. In diese Richtung geht auch das aktuelle Album der Sinfonia of London unter der Leitung von John Wilson. Und dennoch: Muss man das Oktett von George Enescu fürs Tutti bearbeiten, wo es doch ein Meer von originären Partituren zu entdecken gibt? Dabei macht es die Produktion mit den Harmonies du Soir von Eugène Ysaÿe vor: Ein Werk, das man einfach hören muss, und das in seiner Art (Streichquartett und Streichorchester) ein wenig an die Fantasia on a Theme of Thomas Tallis von Vaughan Williams anknüpft. Und schließlich das Concerto von Grazyna Bacewicz (1909–1969), das sich in letzter Zeit zu Recht einer eigenen kleinen Renaissance erfreut. Dass Wilson mit seiner Sinfonia einen eher traditionellen Ton bevorzugt, schlägt sich zwar nicht negativ auf die Produktion nieder, macht aber deutlich, wieviel ungehobenes Potenzial in allem streckt.
George Enescu. Oktett op. 7 (1900) (Arr. John Wilson, Charlie Lovell, Philip Nelson); Eugène Ysaÿe. Harmonies du Soir op. 31 für Streichquartett und Streichorchester (1922/24); Grazyna Bacewicz. Concerto for Strings (1948)
Sinfonia of London, John Wilson
Chandos CHSA 5325 (2022)
- John Adams / RSO Wien
- Bacewicz & Co. / Sinfonia of London
- Mozart / Tarmo Peltokoski
- Carl Philipp Emanuel Bach / AKAMUS
- Haydn Vol. 15 / Giovanni Antonini