27. Juli 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Nadia & Lili Boulanger / Lucile Richardot

Nadia & Lili Boulanger / Lucile Richardot
Nadia & Lili Boulanger / Lucile Richardot
Sie gehören zu jenen Komponistinnen, die in den vergangenen Dekaden nicht erst «wiederentdeckt» werden mussten. Vielmehr ist die Musikgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und nicht allein die französische, sondern auch die amerikanische) kaum ohne den Einfluss von Nadia Boulanger (1887–1979) als einflussreiche Pädagogin zu denken. Ihrer jüngeren Schwester Lili (1893–1918) war es vergönnt, im Alter von nur 19 Jahren als erste Komponistin den legendären Prix de Rome zu gewinnen. Sie starb allerdings – wissend um den nahen Tod und körperlich von Krankheit geschwächt – bereits mit 24 Jahren.

Nach mehr als 100 Jahren sind nun ihre Lieder und einige Stücke in kammermusikalischer Besetzung in einer herausragenden Einspielung erschienen, kombiniert mit denen der Schwester auf insgesamt drei CDs in intensiven Interpretationen, die die vielfach im Ausdruck spürbare und in den Titeln der vertonten Verse aufscheinende «Tristesse» auskosten. Dazu trägt auch der sehr dunkel timbrierte Mezzo von Lucile Richardot bei – einer Sängerin, die den Worten und ihrer Bedeutung diskret nachspürt, nichts aufdrängt oder gar überhöht. Eine kongeniale Partnerin findet sie dabei in Anne de Fornel am Klavier, mit bewundernswerter Klarheit unterstützend, aber auch mit eigenen Akzenten. Die Kombination mit kurzen instrumentalen Piècen erweist sich als kluge Entscheidung. Eine Produktion mit insgesamt 63 Tacks, die durchgehend zu faszinieren vermag und nach «mehr» verlangt. Mehr aber noch wünschte ich mir eine entsprechende Präsenz im Konzertsaal, um dem Marginalen mit Substanziellem zu begegnen.

Nadia & Lili Boulanger
Les heures claires. The Complete Songs
Nadia Boulanger. Mon cœur; Écoutez la chanson bien douce; Soleils couchants; Allons voir sur le lac d’argent; Versailles; Un grand sommeil noir; Ilda; Mon âme; Poème d’amour; Cantique; Heures ternes; Chanson; Soir d’hiver; Doute; Au bord de la route; J’ai frappé; Extase; Aubade; Désespérance; Élégie; La Sirène; O, schwöre nicht; Was will die einsame Träne; Ach! die Augen sind es wieder; Prière; Le Beau Navire; La Mer; L’Échange; Le Couteau; Chanson (Camille Mauclair); Trois pièces für Violoncello und Klavier; Vers la vie nouvelle für Klavier; Petites pièces für Klavier;
Nadia Boulanger & Raoul Pugno. Les Heures claires;
Lili Boulanger. Clairières dans le ciel; Attente; Reflets; Le Retour; Dans l’immense tristesse; Pièce für Violine und Klavier; Nocturne für Violine und Klavier; Introduction et Cortège für Violine und Klavier; D’un matin de printemps für Violine und Klavier; D’un soir triste für Violoncello und Klavier
Lucile Richardot (Mezzo), Anne de Fornel (Klaiver), Stéphane Degout (Bariton), Raquel Camarinha (Sopran), Sarah Nemtanu (Violine), Emmanuelle Bertrand (Violoncello)

HMM 902356.58 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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