Ein Steg in sommerlicher Morgendämmerung. Nur selten einmal ist ein solch stimmungsvolles Coverfoto so dicht und überzeugend an der eingespielten Musik wie hier. Schade nur, dass man das aus dem Booklet nicht erfährt. Dabei handelt es sich just um jenen Steg, der von der hölzernen Villa des so bedeutenden türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk in Yalova auf das Marmarameer führt. Die Villa wiederum wird das «verschobene Haus» genannt, auf das Fazıl Say in seiner gleichnamigen Komposition Bezug nimmt. Was für eine Geschichte: Als sich Atatürk im Schatten einer Platane ausruhte, entstand die Idee zum Sommerhaus. Als dieses später durch den wachsenden Baum in der Substanz bedroht wurde, ließ er jedoch nicht die sich ausdehnende Platane fällen, sondern das Haus versetzen (in den 1920er Jahren eine auch technisch revolutionäre Angelegenheit). Noch heute stehen beide.
Wirklich interessant ist nun aber an der Musik von Fazıl Say, dass er seine Ideen in ganz unterschiedlichen Farben und Besetzungen realisiert. So existiert von Yürüyen Köşk eine Fassung für Klavier solo, eine weitere als Klavierkonzert und eine dritte als Klavierquintett – und alle drei dürfen für sich Authentizität beanspruchen. Die Kammer-Fassung scheint jedoch die wechselhafte Atmosphäre am genauesten zu beschreiben, mit Imitationen von Vogelgezwitscher, kantigen Begleitrhythmen und dramaturgisch im Unisono verdichteten Linien; mal grob und mächtig, mal differenziert und naturalistisch fließend. Say versteht es anhaltend, mit seinen in einem weiten Spagat über den Bosporus Kontinente und Kulturen verbindenden Melodien das Publikum zu begeistern – auch mit so persönlich gefärbten Nummern wie den Balladen op. 12 (hier ebenfalls in einem Arrangement für Klavier und Streichquartett). In diesem Kosmos vermag die Musik zu bestehen, kurzweilig zu unterhalten, vielleicht auch ein wenig durch ihren unzweifelhaft kinematographischen Einschlag mitzuziehen. Die Frage ist allerdings, ob sie Bestand haben wird. Der ästhetische Gap zur Musik vorheriger Jahrhunderte und ihrer anhaltenden Komplexität ist dann doch beträchtlich und auch wahrnehmbar, wenn (wie auf diesem Album) Schumanns Klavierquintett op. 44 die Besetzung neu definiert – und zwar selbst dann, wenn es erstaunlich zahm und an manchen Stellen ungenau daherkommt. – Pluspunkt der Produktion: die angenehme kammermusikalische Akustik.
Fazıl Say. 3 Balladen op. 12 (1996–2002), arr. für Klavierquintett; Yürüyen Köşk (Das verschobene Haus) für Klavierquintett op. 72b; Robert Schumann. Klavierquintett Es-Dur op. 44
Fazıl Say (Klavier), casalQuartett
Solo Musica SM 340 (2019)
- Hindemith / Agnieszka Panasiuk
- Ballads & Quintets / Fazıl Say & casalQuartett
- Smyth & Delius / Villiers Quartet
- Transitions / Capella de la Torre