Es ist dabei sehr anregend, die im Booklet auszugsweise mitgeteilten Rezensionen «von damals» mit den eigenen Hörerfahrungen und Hörerwartungen zu vergleichen. So wurde der Einspielung der ersten Sinfonie ein straffes Tempo attestiert, während man dieses heute eher im mittleren Bereich ansiedeln wird. Ausgenommen allerdings das Allegro des Finales, das hier wirklich ein «con brio» realisiert, dabei aber erstaunlich durchsichtig klingt. Ohnehin legte William Steinberg, der seine Erfahrungen bei Klemperer und Toscanini sammelte, mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra einen verblüffend entschlackten, modernen Brahms vor. Dies gilt zumal für die lyrisch gestimmte zweite Sinfonie: keine träumerische Versonnenheit, sondern ein ungetrübter Blick in den Notentext lässt hier den Verlauf geradezu fließen – und bringt einem das Werk nochmals wirklich näher. So wirkt auch der Kopfsatz der Dritten vollkommen von Pathos befreit, auch die abschließende Passacaglia der Vierten wird klar strukturierend angegangen. Ein Brahms also ohne «Gefühl»? Weit gefehlt. Hier gewinnt die Musik mehr Ausdruck und Freiheit, aus sich selbst zu sprechen, als wenn man mit dem breiten Pinsel und viel gutem Willen allzu dick aufträgt. Eine in jeder Weise willkommene, stimmige und vom Orchester bestens umgesetzte Interpretation, die am Ende gar nicht so «historisch» wirkt.
Johannes Brahms. The Symphonies; Tragic Overture op. 81
Pittsburgh Symphony Orchestra, William Steinberg
Deutsche Grammophon 486 1815 (1961, 1962, 1965)
- Géza Frid / Konzerte & Orchesterwerke
- Johannes Brahms / William Steinberg
- Armas Järnefelt Edition
- Joseph Keilberth / WDR