Nur wenige Komponisten beherrschen die Kunst, Ähnliches oder gar Gleiches in unterschiedlichen Farben und Facetten zu sagen und so als immer wieder neu zu präsentieren. Anton Bruckner wurde diese vergiftete Würdigung fälschlicherweise zuteil, und man muss wohl noch ein paar Jahre warten, bis sich dieses Urteil auch mit Blick auf die Musik von Philip Glass verflüchtigt. Bis es soweit ist, darf man sich wundern, wie souverän es dem Altmeister des Minimalismus gelungen ist, selbst mit minimalem Aufwand schöpferisch tätig zu sein. Die insgesamt zwanzig Etüden (in zwei Folgen à zehn) stellen jedenfalls im gleichsam neutralen Klang des Klaviers eine Art Summa der für Glass charakteristischen Patterns und harmonischen Abfolgen dar.
Nun könnte man meinen, dass der Musik eine gewissen Mechanik innewohnt (und so klingen denn auch einige Vergleichseinspielungen). Umso verblüffender ist daher die Aufnahme von Vicky Chow, der es gelingt, einen poetischen Ausdruck über allem zu entfalten – als ob sie, ausgehend von den zugrunde liegenden Modulen, auf eine höhere Ebene der Musik gelangt wäre. Das mag bei den unterschiedlich gestalteten Etüden mal mehr, mal weniger überraschen, zeigt aber, mit welcher interpretatorischen Souveränität die Pianistin hier nicht nur in sich kreisende Sogwirkungen, sondern auch lebendige, unverwechselbare Satzcharaktere hervorbringt. Glass’ Musik verliert dadurch erfreulicherweise etwas von ihrer routiniert komponierten Suggestion und gewinnt eine in dieser Weise nur selten zu hörende, bewusst gestaltete Individualität, bei der die technischen Verfahren in den Hintergrund rücken. Faszinierend!
Philip Glass. Piano Etudes, Book 1
Vicky Chow (Klavier)
cantaloupe CA 21183 (2020)