Schon länger wird mit dem Vorurteil, Telemann sei ein «Polygraph» gewesen, gründlich aufgeräumt. Denn es war schon seltsam: Ohne die ganze Breite und stilistische Variabilität seines musikalischen Schaffens zu kennen (denn nur ein kleiner Bruchteil war in Neuausgaben erreichbar), hat man ebenso rasch wie gründlich über einen Komponisten gerichtet, der unter seinen Zeitgenossen im 18. Jahrhundert höchstes Ansehen genoss. Dabei ergänzte Johann Mattheson die 1740 in der Grundlage einer Ehrenpforte erschienene Autobiographie um die Verse: «Ein Lully wird gerühmt; Corelli lässt sich loben; Nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.» Es ist vor allem der unermüdlich konsequenten Repertoirearbeit des Labels cpo zu verdanken, dass in den vergangenen Jahren mehr als nur große Vokalmusik, prächtige Ouvertüren und Kapitänsmusiken entdeckt werden konnten (von «wiederentdecken» kann kaum eine Rede sein).
Nun hat man sich an Telemanns so genannten «französischen» Kantaten-Jahrgang von 1714/15 gemacht, der seinen Beinamen wegen einiger stilistischer Eigenheiten schon von den Zeitgenossen erhalten hat. Der Zyklus umfasst insgesamt 72 Kompositionen zu den Sonntagen des Kirchenjahres und allen weiteren Festen, ist aber dennoch nicht einheitlich, sondern in zahlreiche Abschriften unterschiedlicher Provenienz überliefert. Als Text liegen ihm die Geistlichen Poesien von Erdmann Neumeister zugrunde, die mit ihrer charakteristischen Sprache wohl den Nerv der Zeit trafen und auch von anderen Komponisten vertont wurden. Telemann jedenfalls verzichtet in seinen Kantaten auf groß angelegte Chöre oder Arien. Sie sind vom Umfang her immer übersichtlich disponiert und haben nur selten eine Spielzeit von mehr als drei Minuten. So gelingt es Telemann, höchst variabel zu sein und die zugrunde liegenden Worte mitunter recht bildhaft zu verstärken – wenn etwa bei der «falschen Welt» die Harmonik eine seltsame Ausweichung nimmt oder gar ein ganzes mechanisches Uhrwerk imitiert wird («Schlage bald, gewünschte Stunde»). – Interpretatorisch überzeugt diese Einspielung. Für das Projekt hat sich in den Gutenberg Soloists eine ehrlich motivierte Sängerschar vereint: teilweise frisch mit einem ersten Examen versehen, teilweise bereits lehrend, im ersten Engagement oder auch aus der Auswahl des Collegium musicum stammend. Bemerkenswert: Während die Semester vielfach streng digital abliefen, wurde hier im großräumigen Studio geräuschlos ein Stück Musikgeschichte produziert. Mit dem Neumeyer Consort unter der bewusst gestaltenden Leitung von Felix Koch ist mit diesem Doppelalbum ein wirklich glücklicher Auftakt zu einem ambitionierten Vorhaben entstanden.
Georg Philipp Telemann. Französischer Kantaten-Jahrgang 1714/15 (Vol. 1). Jesu meine Freude TVWV 1:966; Ich werfe mich zu deinen Füßen TVWV 1:822; Valet will ich dir geben TVWV 1:1458; Der Herr verstößet nicht ewiglich TVWV 1:288; Ach, sollte doch die ganze Welt TVWV 1:32; Christus hat einmal für die Sünde gelitten TVWV 1:140; Muß nicht der Mensch immer in Streit sein TVWV 1:1146; Herr, wie lange wilt du mein so gar vergessen TVWV 1:777; Gott schweige doch nicht also TVWV 1:678; Wer ist der, so von Edom kömmt TVWV 1:1585
Elisabeth Scholl (Sopran), Julie Grutzka (Sopran), Rebekka Stolz (Alt), Larissa Botos (Alt), Fabian Kelly (Tenor), Julian Dominique Clement (Bass), Hans Christoph Begemann (Bass), Gutenberg Soloists, Neumeyer Consort, Felix Koch
cpo 555 436-2 (2020/21)