
Ein gestrandetes Holzschiff, das durch Sturm und Wellen an der Küste wieder freigelegt wurde. Wofür mag das historische Wrack auf dem Cover des Albums aber stehen? Ist es ein Symbol für das literarische Narrenschiff von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494, das im 21. Jahrhundert angespült wurde? Dort lautet der zentrale Satz, der auch heute noch von brennender Aktualität ist: «Mundus vult decipi, ergo decipiatur» (Die Welt will getäuscht werden, also lasst sie uns täuschen). Der seit zwei Jahrzehnten in Deutschland lebende estnische Komponist Jüri Reinvere (*1971) hat jedenfalls in seiner zuletzt präsentierten Partitur On the Ship of Fools (2023) einen entsprechenden Bezug hergestellt – ein tief ein- und ausatmender Verlauf mit erstaunlicher klanglicher Intensität und unmittelbarem Ausdruck: dramaturgisch ausgewogen und klug kalkuliert, mit einem Hauch längst überholter postmoderner Grandezza, für das Orchester (und das Publikum gleichermaßen) eine brillante und lustvolle Etüde über die Möglichkeiten des Klangkörpers.
Hierzulande kaum im Konzertsaal präsent und derzeit nur mit diesem einen Album auf dem Tonträgermarkt vertreten (mit einem Booklet-Essay von Jan Bachmann), scheinen Label, Interpreten und Tonsetzer alles richtig gemacht zu haben. Wie sonst lässt es sich erklären, dass Jüri Reinvere nur wenige Monate nach dem Veröffentlichung in der Kategorie Komponist des Jahres mit einem OPUS Klassik 2025 ausgezeichnet wird? Einmal mehr muss da der englische Hosenbandorden mit seiner Devise herhalten: Honni soit qui mal y pense. Allerdings. Wer sich auf die Musik einlässt, wird auch belohnt. Denn Reinvere versteht es, nicht nur Töne zu bewegen, sondern auch Geschichten zu erzählen. Hierin liegt der Reiz seiner Partituren, die mich mit ihren tonalen Bindungen und ihrem narrativen Gestus im Tonfall mal an Wagner, mal an Einojuhani Rautavaara erinnern. Vor allem lebt auch die Produktion von einen langem Atem mit der Dokumentation der Uraufführungen von 2018, 2020 und 2023 – herausragend gespielt und interpretiert vom Estonian Festival Orchestra unter Paavo Järvi.
Jüri Reinvere. And Tired from Happiness, They Started to Dance (2018); Konzert für 2 Flöten, Streicher, Percussion (2016); On the Ship of Fools für großes Orchester (2023)
Maarika Järvi (Flöte), Monika Mattiesen (Flöte), Estonian Festival Orchestra, Paavo Järvi
Alpha ALP 1056 (2018, 2020, 2023)