24. April 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Rosetti / L’arpa festante

Rosetti / L’arpa festante
Rosetti / L’arpa festante
Protestantische Kirchenmusik aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat es schwer. Früher sprach man gar von einem «Niedergang» in jeder Zeit – vor allem gemessen an den Werken von Johann Sebastian Bach, die lange als einzige Referenz galten und tradiert wurden. Vergessen wurden in diesem Zusammenhang neben Bachs eigenen Zeitgenossen (so selbst Telemann!) auch die in Hamburg entstandenen Passionen von CPE Bach, der Tod Jesu in der Vertonung von Carl Heinrich Graun (Berlin, 1755) oder auch Werke von Antonio Rosetti (1750–1792). Nicht selten stößt man daher heute bei Einspielungen solcher Werke auf Formulierungen wie die einer «willkommenen Repertoirebereicherung». Ein gedanklicher Trugschluss. Denn nur durch wirkliche Aufführungen wird das Repertoire tatsächlich erweitert, der Kanon aufgebrochen oder kontextualisiert (je nachdem, wie man das für sich definiert oder sehen will).

Zumindest bei neueren Einspielungen von Passionsmusiken ist eine Tendenz weg von Bach und hin zu Werken der Empfindsamkeit zu beobachten – also in eine Zeit zwischen den großen Epochen, in der auch Rosetti zuhause ist als ein Komponist, der seit vielen Jahren beim Label cpo kontinuierlich Beachtung findet und dessen Werke durch herausragende Interpretationen zu neuem Leben erweckt werden. So auch das zu seiner Zeit weit verbreitete (und bei Artaria gedruckte) Oratorium Der sterbende Jesus nach Versen von Karl Friedrich Bernhard Zinkernagel. Es erklang erstmals am Karfreitag 1785 (also vor 240 Jahren) in der Wallersteiner Pfarrkirche – nur ein Jahr nach Mozarts sechs Wiener Streichquartetten und ein Jahr vor Le nozze di Figaro. Vorausgesetzt wird die Kenntnis der Passionsgeschichte, von der reflektiert und zugleich in intimer Emotionalität erzählt wird. Die vorliegende Interpretation nimmt diesen Ton auf, akzentuiert in den Rezitativen aufführungspraktisch die traditionellen Elemente, stellt aber in den Arien, Duetten und Chören mit feiner Sensibilität den neuen expressiven Ausdruck in den Vordergrund. Das Solistenquartett wie auch das Ensemble L’arpa festante waren für die Produktion (und die vorangegangene Live-Aufführung) bestens vorbereitet, das offenbar als (lokaler?) Projektchor agierende Vokalensemble BeckerPsalter klingt mir zu offen.

Antonio Rosetti. Der sterbende Jesus
Anna-Lena Elbert (Sopran), Anne Bierwirth (Alt), Georg Poplutz (Tenor), Daniel Ochoa (Bass), Vokalensemble BeckerPsalter, L’arpa festante, Johannes Moesus

cpo 555 567-2 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 3 von 4 in Michael Kubes HörBar #152 – Passionen

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