CPE Bach / Keith Jarrett«I heard the Württemberg Sonatas, recorded by harpsichordists, and I felt there was space left for a piano version.» Aus dem Booklet geht leider nicht hervor, von wann diese Wort datieren. Sicher ist nur, dass Keith Jarrett auf unnachahmliche Weise eine Lücke gefüllt hat. Wer allerdings glaubt, der Altmeister des Jazz and beyond hätte sich hier noch einmal der radikal in die Zukunft weisenden Sonaten von CPE Bach angenommen, wird überrascht sein. Die Aufnahme, die bislang vollständig unveröffentlicht in den Archiven von ECM schlummerte, stammt aus dem Jahr 1994 – quasi als Supplement zu den zwischen 1987 und 1993 entstandenen Einspielungen des Wohltemperierten Klaviers I und der Suiten von Georg Friedrich Händel. Warum aber dieser Abstand von mehr als drei Jahrzehnten? Waren die Puristen damals zu streng? Erschien die Musik von CPE noch zu sehr «am Rande»? Das Label äußert sich dazu weder im Album noch zu den weiteren Produktinformationen. Raum für Spekulationen…
Davon abgesehen geht Keith Jarrett die bereits 1742/43 entstandenen Sonaten, die vieles von der weiteren musikalischen Entwicklung bereits vorwegnehmen und ungleich modern anmuten, mit Leichtigkeit und souveräner Gestaltung an. Nicht die Frage, ob dies oder jenes stilistisch angemessen sei, treibt ihn an. Vielmehr bringt er an der Musik genau das zum Ausdruck, was diese über die Epochen hinweg so einzigartig macht: die Empfindsamkeit des Ausdrucks, die Weite der Linien, die von innen heraus geborenen Diminutionen und Verzierungen, die Sprachhaftigkeit des Verlaufs. Es isind Sonaten, die sich vom strengen Stil des Vaters entfernt haben, die weit in die Zukunft schauen – und doch immer ganz beim Interpreten sind: «Indem ein Musickus nicht anders rühren kan, er sey denn selbst gerührt», wie CPE Bach schon im dritten Hauptstück (§13) seines Versuchs über die wahre Art das Clavier zu spielen (1753) formulierte. Natürlich wird man heute den einzelnen Satzcharaktere etwas nachdrücklicher, forcierter oder auch zurückhaltender nähern. Keith Jarrett aber bleibt sich und seiner eigenen Art des Spielens zwischen Strenge und Freiheit in jedem Takt treu. Und das macht dann auch die Faszination diese Aufnahme aus. Eine Zeitreise auf gleich mehreren Ebenen.
Carl Philipp Emanuel Bach. Sechs Sonaten Wq. 49 «Württembergische»
Keith Jarrett (Klavier) ECM 485 8495 (1994)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.