Eine schöne Idee, die Uhr musikalisch um genau 400 Jahre zurückzudrehen und bei einer Christvesper in Dresden zu Gast zu sein. Nur wer genau hinschaut – man verzeihe mir diese Beckmesserei – erkennt, dass dem Album zwar ein gelungenes klingendes Konzept zugrunde liegt, nicht aber eine historische Wahrscheinlichkeit. Auch wenn die Weihnachtsgeschichte von Rogier Michael (1553–1623) am sächsischen Hof eine lange Aufführungstradition hatte, so ist die Hinzunahme von Sätzen u. a. von Michael Altenburg, Christoph Demantius, Melchior Franck und Michael Praetorius auf diesem Album nur eine Option (auch wenn die einzelnen Nummern gut aneinander passen). Warum dann aber Sätze von Samuel Scheidt aus dem Görlitzer Tabulaturbuch von 1650?
Davon abgesehen ist dies eine Produktion, die wieder einmal in hervorragender Weise deutlich macht, wie wenig Musik des frühen 17. Jahrhunderts heute bekannt ist, aufgeführt und eingespielt wird. Dabei war es eine Zeit des Aufbruchs, in der sich der Generalbass rasant durchsetzte und Komponisten von nördlich der Alpen auf ihren Italienreisen reichlich Anregungen mitnahmen – bevor der Dreißigjährige Krieg für viele Hofkapellen und Chortraditionen das «Aus» bedeutete. Bis dahin dürfte es eine bunte Klanglandschaft gegeben haben, wie diese Einspielung deutlich macht: Allein die farbige Besetzung und Organisation der Continuogruppe gibt den Sätzen Individualität, das Ensemble Polyharmonique verleiht ihnen mit sechs Sänger:innen maximale Flexibilität. Das ist schön zu hören – und ab dem 20. Dezember auch hübsch anzusehen.
Christvesper Dresden (1624)
Mit Werken von Melchior Franck, Michael Altenburg, Michael Praetorius, Heinrich Scheidemann, Rogier Michael, Erhard Bodenschatz, Sethus Calvisius, Johannes Eccard, Johannes Schultz, Samuel Scheidt, Michael Lohr, Christoph Demantius
Ensemble Polyharmonique, Alexander Schneider
cpo 555 698-2 (2024)