12. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Frühe Bach-Kantaten: Les Arts Florissants / Paul Agnew

Les Arts Florissants / Paul Agnew
Les Arts Florissants / Paul Agnew
Yes we can. Zumindest in der historisch informierten Aufführungspraxis scheint dieser Satz seine ungebrochene Gültigkeit zu behalten. Denn wohl zu keiner anderen Zeit waren die Musiker so gut ausgebildet, waren die Instrumente in einem so guten Zustand, waren die Möglichkeiten der Umsetzung so vielfältig, aber auch technisch so weitgehend reproduzierbar wie heute – bis hin zum Schnitt, um einmal die Sprache der Gärtnerei zu verwenden. Aber nicht alle Blumen ergeben am Ende einen schönen Strauß. Das gilt auch für dieses Album als erste Folge einer neuen Serie mit dem Titel Johann Sebastian Bach. A Live in Music. Chronologische Streifzüge durch ein Œuvre hat es schon immer gegeben, hier aber soll die Werkauswahl darüber hinaus in einen historischen Kontext gestellt werden. Und so erklingt als Ergänzung zu der frühen, in Mühlhausen entstandenen Kantate «Christ lag in Todesbanden» BWV 4 eine Vertonung von Johann Kuhnau (1766-1722) aus dem Jahr 1693, Bachs Vorgänger im Leipziger Thomaskantorat – und nicht etwa von Johann Pachelbel, wie man eher vermuten könnte.

Können ist nicht gleichbedeutend mit müssen. Und so verhält es sich auch mit dem Ensemble Les Arts Florissants unter der Leitung von Paul Agnew. Äußerlich mag alles passen: Die solistische Vokal- und Instrumentalbesetzung eröffnet in der direkten Akustik einen kammermusikalischen Zugang zu den Werken und ihren Strukturen. Doch gleichzeitig irritieren Ausführung und Interpretation. Oft werden die Tempi so überzogen, dass sie nicht mehr musikalisch berauschen, sondern die Nummern ohne Rücksicht auf die Rezeption wie ein Hurrican vorüberziehen lassen. Auch der Ausdrucksdrang wird fast durchweg so gepresst, so auf die Spitze getrieben, dass er mit Rücksicht auf Text und Sprache einfach nicht mehr «echt» wirkt. Jedenfalls möchte ich persönlich so nicht «noch heute im Paradies sein» (BWV 106). Wer die älteren Aufnahmen unter dem (streitbaren) Reinhard Goebel oder dem eher ästhetisch interpretierenden Joshua Rifkin kennt, wird in der Tat erschrecken. Wer aber jetzt noch immer neugierig ist, sollte sich vor Augen halten, dass es eine Devise des mitteldeutschen Stils des 18. Jahrhunderts war, «cantabel» zu setzen – und also auch entsprechend zu musizieren.

Johann Sebastian Bach. A Live in Music Vol. 1
Early Cantatas. Arnstadt & Mühlhausen (1703–1708)

«Christ lag in Todes Banden» BWV 4; «Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit» BWV 106; «Nach dir, Herr, verlanget mich» BWV 150; Orgelchoräle «Christ lag in Todesbanden» BWV 718; «Ach Herr, mich armen Sünder» BWV 742; «Jesu, meines Lebens Leben» BWV 1107; Johann Kuhnau. «Christ lag in Todesbanden».
Benjamin Alard (Orgel), Les Arts Florissants, Paul Agnew

harmonia mundi HAF 8905364 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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