18. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Mahler / Philipp von Steinaecker

Mahler / Philipp von Steinaecker
Mahler / Philipp von Steinaecker
«Dass alles durchaus so zu Gehör kommt, wie es in meinem inneren Ohr ertönt, ist die Forderung, zu der ich alle zu Gebote stehenden Mittel bis aufs letzte auszunützen suche. Nur am richtigen Platze und in seiner völligen Eigenart darf jedes Instrument verwendet werden.» – Die Älteren der geneigten Leserschaft werden sich noch an die 1970er und vor allem die 1980er Jahre erinnern, als sich die historisch informierte Aufführungspraxis nach ersten Versuchen Bahn brach, ein ganzes Repertoire eroberte und schließlich wiederbelebte. Stand zunächst die Musik bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts (und hier vor allem die von Johann Sebastian Bach) im Mittelpunkt, so weitete sich der Blick bald auf die Wiener Klassik. Später kam Schritt für Schritt das 19. Jahrhundert hinzu – und längst ist man im frühen 20. Jahrhundert angekommen. Mehr und mehr wurde man sich bewusst, dass das verwendete Instrumentarium (und nicht nur die Darmsaiten oder das Vibrato) die Grundlage für einen «originalen» Klang ist. Das Ensemble Les Siècles hat es mit Strawinsky und Ravel vorgemacht…

… so dass nun Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 9 mit dem in Bozen beheimateten Mahler Academy Orchestra fast unsensationell folgen kann. Fast, weil man sich einerseits daran gewöhnt hat, dass der Ereignishorizont der historisch informierten Aufführungspraxis immer näher rückt; irgendwann werden sicher auch Rundfunkmusiken der späten 1920er Jahre über Kurzwelle eingespielt. Andererseits ist man bei keiner anderen Einspielung Mahlers «innerem Ohr» so nahe. Die verwendeten Instrumente wurden aufwendig recherchiert und aus aller Welt zusammengetragen, die Aufführungspraxis anhand zeitgenössischer Partituren (etwa denen von Willem Mengelberg) studiert. Soweit der Hintergrund – am Ende zählt aber das interpretatorische Ergebnis. Und das ist wahrlich sensationell: Es gab immer wieder Aufnahmen von betörender Fragilität – hier aber ist es der Klang selbst, der in unzähligen Momenten zerbrechlich wird; von der verblüffenden Mischung der instrumentalen Farben bis zu ihren Brechungen am unteren oder oberen Ende des Ambitus, von den scharfen Dissonanzen bis zum letzten Atemzug im abschließenden Adagio. Diese Neunte ist neu und anders – und man wird sie viele Male hören müssen (am besten mit der Partitur in der Hand), um sie zu erkunden. Sie ist wirklich sensationell.

Gustav Mahler. Sinfonie Nr. 9
Mahler Academy Orchestra, Philipp von Steinaecker

Alpha ALP1057 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 4 von 4 in Michael Kubes HörBar #134 – Nr. 9

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