21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Graun, Bach, Telemann / Pasticcio

Graun, Bach, Telemann / Pasticcio
Graun, Bach, Telemann / Pasticcio
Bei einer Pastete kommt es auf die rechten Zutaten und die passenden Gewürze an. Im glücklichsten Fall hat die Küche nur die besten Zutaten verwendet – so wie dies im musikalischen Bereich auch bei einem «Pasticcio» sein sollte. Der Begriff beschreibt die insbesondere in der erste Hälfte des 18. Jahrhunderts übliche Zusammenstellung von Stücken verschiedener Meister, die am Ende ein neues «Werk» ergeben – im Bereich der Oper leicht nachvollziehbar (entweder bei einem ähnlichen Libretto oder wegen der «wiederverwendbaren» musikalischen Affekte der Arien), im Bereich des Passionsoratoriums aber ebenfalls im Bereich des Möglichen. So wie im Fall einer aus dem Besitz von Carl Philipp Emanuel stammenden, in Berlin überlieferten Handschrift, die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und unter dem Titel des Eingangschores «Wer ist der, so von Edom kömmt» bekannt ist.

Der von Christoph Farlau (aus dem Umkreis von Johann Sebastian Bach) geschriebenen «Pastete» liegt zunächst und in weiten Teilen die Passionskantate «Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld» von Carl Heinrich Graun zugrunde. Diese wurde angereichert durch Auszüge der Kantate zum Palmsonntag «Wer ist der, so von Sodom kommt» von Georg Philipp Telemann, einigen Sätzen von Bach (auch aus BWV 127) sowie einigen weiteren anonymen Sätzen und Chorälen, die man schon beim Hören stilistisch (Harmonik, Chromatik, Ausdruckstiefe – in dieser Reihenfolge) ebenfalls Bach zuordnen möchte. Alles zusammen bildet eine wirklich herausragende Passionsmusik, bei der die verteilten Strophen des Chorals «Christus der uns selig macht» einen größeren Zusammenhang stiften. – Die Produktion aus Budapest mit ausschließlich ungarischen Kräften ist in jeder Hinsicht vorzüglich zu nennen. Hier wurde nicht nur gründlich einstudiert (und auf den Text geachtet), sondern auch von Seiten der Tontechnik im Großen Saal der Liszt Akademie allerbeste Arbeit geleistet (direkt und dennoch angenehm räumlich). Ein Highlight.

«Wer ist der, so von Edom kömmt» (Passionsoratorium, Pasticcio, ca. 1750) mit Musik von Carl Heinrich Graun, Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann
Ágnes Kovács (Sopran), Péter Bárány (Countertenor), Zoltán Megyesi (Tenor), Lóránt Najbauer (Bass), Purcell Choir, Orfeo Orchestra, György Vashegyi

Glossa GCD 924011 (2020)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #113 – Passionsmusiken