23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ligeti / Han Chen

Ligeti / Han Chen
Ligeti / Han Chen
Wer einmal die Études von György Ligeti gehört hat, den dürften sie kaum mehr loslassen. Die innere Motorik vieler Stücke und das geradezu systematische Nachsinnen über einzelne musikalische Aspekte haben den drei Büchern mit insgesamt 18 «Studien» einen bleibenden Platz in der Musikgeschichte wie auch im Repertoire gesichert. Zudem handelt es sich um ein «Alterswerk» des Komponisten, das er erst im Jahre 2001 (unvollendet) aus der Hand legte. Nicht zufällig haben einige der Nummern unter Pianist:innen inzwischen eine hohe Beliebtheit erreicht – Gesamteinspielungen der Sammlungen sind indes noch in der Minderzahl. Eigentlich bedürfen die Produktionen einer gründlichen Einführung, da auch der Intellekt mit Vergnügen in die Strukturen eintauchen kann.

Neben den interpretatorischen Anforderungen wird auf jeden Fall eine stupende Fingerfertigkeit vorausgesetzt – und ein Blick in die Noten zeigt, wie notwendig dies auch wirklich ist, motorisch, koordinierend und ausdauernd. Entscheidend ist freilich, was man daraus macht. Der in Taiwan geborene und heute in New York lebende Han Chen vermag in beiden Kategorien zu überzeugen, wenn auch Fragen offen bleiben. Dass er sich auf seinem vierten Album (nach Liszt, Rubinstein und Ades) nun dieser Herausforderung stellt, mag in gewisser Weise logisch erscheinen – und doch handelt es sich bei Ligetis Études keinesfalls um sportive Übungen. So gewissenhaft sich Han Chen mit dem reinen Notentext auseinandergesetzt hat, so muss man etwa das letzte Stück (Nr. 14) aus dem 2. Buch nicht in der Art eines Player Pianos durchexerzieren. Und so brillant der Zauberlehrling (Nr. 10) gelingt, vermisse ich hier doch die gelebte Einsicht in die inhärente latente Mehrstimmigkeit. Je länger man hinhört, desto ambivalenter wird der Eindruck.

György Ligeti. Études I (1985), Études III (1995–2001), Capriccio Nr. 1 – Allegretto capriccioso (1947), Capriccio Nr. 2 – Allegro robusto (1947), Études II (1988–1994)
Han Chen (Klavier)

Naxos 8.574397 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 2 von 5 in Michael Kubes HörBar #103 – Ligeti 100