Sind neuere Einspielungen von Werken Max Regers eher rar, so zählen Aufnahmen auch nur einiger seiner über 300 Lieder und Gesänge schon lange zu den absoluten Raritäten – diskograpisch, mehr noch auf dem Podium. Die Antwort auf die obligatorische Frage nach dem «Warum?» ist freilich facettenreich. So wählte Reger als Textvorlagen keine «Klassiker» aus, sondern hielt sich als Leser wie auch als Kenner mit Begeisterung an konservativ getönte zeitgenössische Dichter (einige heute noch vertraute progressive Namen fehlen: George, Hofmannsthal, Holz, Huch, Rilke). Seine musikalische Sprache, die Dichte des Ausdrucks und der Harmonik verlangen von den Interpreten ein genaues Studium und verweigern sich in nahezu allen Fällen einer raschen Umsetzung; ferner geht Reger bei der Anlage und Gestaltung der Gesangslinie ohne Rücksicht an die Grenzen. Dass mit zeitweiliger Ausnahme von Mariä Wiegenlied (aus den Schlichten Weisen op. 76/52) keines der Lieder sich bleibend hielt, machte letztlich den gesamten Bestand zu einer terra incognita.
Umso höher ist es Markus Schäfer anzurechnen, nicht etwa eine heutigen ästhetischen und musikalischen Kriterien folgende Auswahl getroffen zu haben, sondern zwei vollständige Sammlungen mit insgesamt 29 Nummern aufzunehmen: op. 51 (1900) sowie op. 70 (1903) – wie schon 2007 bei einem längst vergriffenen Album (NCA) mit opp. 55, 62, 75, 98 und 142. Zu seinem op. 70 bemerkte Reger selbst, er habe dazu «die wundervollsten, alle alle Gebiete des menschlichen Empfindens berührenden Texte» gewählt – darunter auch zahlreiche Verse, die er auf eigene Nachfrage von den Dichtern direkt im Manuskript erhielt. In jedem einzelnen Lied geht Reger kompositorisch sogleich «in die Vollen» – nicht nur mit dem bisweilen orchestral anmutenden Klaviersatz, sondern auch was die stimmlichen Anforderungen angeht. Denn die Gesänge sind im Original nicht nur als für eine «hohe Stimme» bezeichnet, sondern vielfach auch in hoher Lage geführt. Es ist eine ganz eigene, an Hugo Wolf anschließende Art der Liedvertonung, in die man sich erst einhören muss, die dann aber eine höchst differenzierte Ausdruckspalette offenbart. Markus Schäfer, der sowohl die zarten, fast zerbrechlichen Linien nuanciert beleuchtet wie auch die hochdramatischen, alles fordernden Stimmungen mit Leidenschaft gestaltet, bricht gemeinsam mit Ernst Breidenbach, seinem langjährigen, hier auch als «Akkordarbeiter» geforderten Klavierbegleiter, eine Lanze für diese fast vergessenen Werke. Es ist Schäfers reifer und runder gewordener Stimme anzumerken, dass zwischen den Aufnahmen der beiden Sammlungen immerhin 13 Jahre liegen. Ein Wermutstropfen: Vermutlich wegen des Umfangs wurden die Texte im Booklet nicht abgedruckt; eine Alternative im Internet ist allerdings auch nicht gegeben.
Max Reger. 12 Lieder op. 51; 17 Gesänge op. 70
Markus Schäfer (Tenor), Ernst Breidenbach (Klavier)
DreyerGaido DGCD 21142 (2009/2022)