Mitunter darf man sich schon die Frage stellen, welche Zukunft das Booklet noch hat. Nicht auf jedem Streaming-Portal wird es neben dem Album zur Verfügung gestellt – und wo Pop-, Rock- und alle weitere U-Musik 99% des Angebots ausmachen, scheint es so auch in Zukunft zu bleiben. Manche Labels, dem die kleinen Hefte als Beigabe wichtig sind, bieten daher pdfs auf den eigenen Internetseiten an; manche Liedtexte, Übersetzungen oder weitere Informationen werden ohnehin schon ab und an entsprechend ins «online» ausgelagert. Was aber geschieht, wenn das Booklet selbst ausdünnt? Übersieht man einmal die letzten Jahre, dann fällt auf, dass gelegentlich nur noch einer «Pflicht» nachgekommen wird. Doch wo keine Hintergründe ausgeleuchtet, Kontexte aufgeschlossen oder gar Türen geöffnet werden, da bleibt in einer Zeit immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspannen jeder Hörer auf sich selbst zurückgeworfen.
So auch bei diesem Album – und dies ausgerechnet bei einem so gewichtigen Werk wie dem Klavierkonzert op. 114 (1910) von Max Reger. Auf nur anderthalb Seiten wird der Versuch einer tour d’horizon unternommen. So kann man Regers Biographie wohl «rasch skizzieren», doch ob seine Persönlichkeit damit erfasst wird? Dass er eine «schlechte Presse» hatte, als Beleg aber Percy Young (1954) herangezogen wird, zeigt eher, dass es vor allem im englischsprachigen Bereich noch immer an gediegener Literatur fehlt. Ob der Autor des Heftchens selbst vom Klavierkonzert überzeugt ist, erscheint mir fraglich; sonst wäre man kaum auf eine Einlassung aus der New York Times von 1950 verfallen («a most inflated pretentious bag of wind») und hätte stattdessen einige wirkliche Hörhilfen gegeben. Künstlerbiographien fehlen ganz.
Die Einspielung mit Joseph Moog und der Deutschen Radio Philharmonie unter Nicholas Milton steht glückicherweise über alldem. Sie überzeugt nicht nur, sondern ist geradezu brillant. Schon die ersten Takte glühen und lassen das bestens präparierte Orchester in der für Reger so notwendigen klanglichen Durchsichtigkeit erscheinen. Moog wiederum pflügt sich nicht nur mit höchster Souveränität durch den anspruchsvollen und Ausdauer fordernden Klavierpart, sondern gestaltet in langen Bögen, deren Ende er immer fest im Blick hat. Hier mäandern keine Motive oder chromatisch durchsetzten Harmonien, hier erscheint die Form durch Formung des Verlaufs. Dass zudem im Kopfsatz die Scharnierstellen zwischen den Ruhepolen und den agitativen Steigerungen «sitzen», verleiht dem Verlauf einen inneren dramatischen Zug, der an keiner Stelle zum vorzeitigen Erliegen kommt. – Die Intermezzi op. 45 mit einer eigenen Spielzeit von mehr als 20 Minuten sind mehr als nur eine Zugabe. Ein Höhepunkt im Reger-Jahr 2023.
Max Reger. Klavierkonzert f-Moll op. 114; Sechs Intermezzi op. 45
Joseph Moog (Klavier), Deutsche Radio Philharmonie, Nicholas Milton
ONYX 4235 (2017, 2018)