21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Ablinger / Grisailles (1–100)

Ablinger / Grisailles (1–100)
Ablinger / Grisailles (1–100)

Obwohl 1991/93 entstanden, sind die 100 Grisailles von Peter Ablinger (geb. 1959) ohne die tausend Jahre zurückliegende romanische Vergangenheit nicht denkbar. Der Titel bezieht sich nämlich auf die Fenster im Lesegang der Zisterzienser-Abtei Heiligenkreuz im Wienerwald, die ganz im monochromen Grisaille-Stil gehalten sind – in einem undefinierten Grau, das zwar nur zwischen hell und dunkel unterscheidet, mit seinem Rankenwerk dennoch eine herausragende Plastizität bietet und zugleich ein schattenloses Licht wirft. Diese Idee nahm Ablinger in seine eigenen Grisailles auf, einen pochenden Stillstand von 50 Minuten Spieldauer mit sehr langsamen Veränderungen auf allen Ebenen.

Konzipiert für drei Klaviere sind es 24 Schichten, die Ablinger entwickelt und aus-gearbeitet hat, um aus ihnen wiederum eine vorläufige(!) Partitur zu entwerfen; darin wird das Detail sichtbar und geht zugleich im Ganzen auf. Bei der Realisation verhält es sich dann wie mit dem Licht, das keine Schatten wirft: «Ich schichte Strukturen – ornamentale, rhythmische, harmonische Strukturen übereinander, bis alles so dicht ist, dass ich mich selbst nicht mehr auskenne, bis ich völlig den Faden verliere, die Herrschaft über die von mir hervorgerufenen Strukturen gänzlich aufgeben muss. Und dann fange ich an mir einen Weg durch das Dickicht zu bahnen; ich lasse nicht einfach all das spielen was die Schichtung von Strukturen erzeugt hat, sondern ich nehme in jedem Moment gerade so viel wie ich erfassen (mir vorstellen…) kann, und erzeuge so: Wirklichkeit. Meine Wirklichkeit zwar nur, aber immerhin EINE Wirklichkeit: durch Weglassen.» – Mit Hildegard Kleeb haben diese differenzierten Grautöne vor nun schon 25 Jahren eine ideale Interpretin gefunden, die alle drei Parts auf sich vereint hat. Nach so langer Zeit noch immer eine hochspannende Klangerfahrung, auch strukturell jenseits des schon damals profanen Minimalismus.

Nach fünf Jahren Hörbar eine kleine Feierstunde mit Rückblicken. In der Folge #100 stehen Alben und Werke im Mittelpunkt, die sich auf ganz eigene Weise explizit der „Einhundert“ widmen. Nicht alles ist dabei brandneu (das liegt oft genug in der Natur der Sache) – und doch ist jede Scheibe nach wie vor lieferbar.


Peter Ablinger. Grisailles (1–100) für drei Klaviere
Hildegard Kleeb (Klavier)

hat[now]ART 132 (1998)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #100 – Hörbar100