Spätestens mit dem denkwürdigen Konzert der Berliner Philharmoniker zum 1. Mai 2020 ist Mahlers 4. Sinfonie ein Werk des 21. Jahrhunderts geworden. Selten wird man in unseren Zeiten so viel Sehnsucht nach den «himmlischen Freuden» empfunden haben, selten nur wird man in unseren Generationen Musik in einer solchen kulturellen und auch existenziellen Endzeitstimmung wahrgenommen haben. Gespielt wurde damals mit gehörigem Abstand die Fassung für Kammerensemble von Eduard Steuermann. Dass nur wenige Wochen später (im Juli 2020) schon wieder Aufnahmesitzungen der originalen Partitur möglich wurden, war an jenem Tag wahrlich nicht abzusehen… Auf merkwürdig beklemmende Art wird die Vierte für Jahre jene Zeit der Verunsicherung, Trauer, Angst und Hoffnung widerspiegeln. Unter diesem Eindruck stand in Bamberg die Produktion dieses Albums, das etwas von der Ausnahmesituation in sich aufgenommen hat – obwohl (oder gerade weil) die Musiker:innen dieser vergleichsweise überschaubaren Besetzung weit auseinandergezogen und die Streicher am jeweils eigenen Pult saßen. Trotzdem ist nur selten ein derartiger Zusammenhalt zu hören, der nicht allein einer stupenden Aufnahmetechnik zugeschrieben werden kann. So viel Plastizität in den Linien lässt selbst die für mich noch immer in ihrer Klarheit beeindruckende hr-Produktion unter Eliahu Inbal (1985) nicht hören. Zugleich entfaltet sich unter der Leitung von Jakub Hrůša ein wundervoll schwebender Klang voll ehrlicher Sehnsucht ganz ohne breiig schmelzenden Zuckerzusatz. So kann sich auch im ruhevollen dritten Satz ohne Anstrengung ein voluminöses Forte aufschwingen. In diese Atmosphäre fügt sich der dunkle, mitunter auch jugendlich wirkende Mezzo von Anna Lucia Richter gut ein, auch wenn er mir etwas zu präsent und zugleich nicht immer verständlich genug erscheint. Es gibt freilich auch Passagen, bei denen ich nicht ganz mitgehen mag. Dies betrifft den herausfordernden Beginn des Kopfsatzes, den Hrůša im dritten Takt plötzlich kurz beschleunigt, um ihn sogleich wieder im Ritardando einzufangen (wenigstens letzteres findet sich von Mahler vorgezeichnet). Die Vierte ist in diesem Punkt besonders empfindlich. Dennoch: Diese vor allem instrumental herausragende Aufnahme macht Lust auf mehr – auch wenn der letzte Bamberger Mahler-Zyklus unter Jonathan Nott (Tudor, 2003–2012) gerade einmal vor einem Jahrzehnt abgeschlossen wurde.
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 4 G-Dur
Anna Lucia Richter (Mezzo), Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůšaaccentus music ACC 30532 (2020)