Man weiß nicht so genau, was noch in den Archiven von ECM schlummern mag, aber da scheint es ja in Sachen Jarrett kaum ein Ende zu geben. Nun also eine Aufnahme aus dem „Gran Teatro La Fenice“ in Venedig. Man schreibt das Jahr 2006. Und Keith Jarrett schreibt eine weitere Improvisation. Von den langen improvisatorischen Gleisen der 70er bis 90er Jahre hat er sich längst entfernt. Sein Soloabend ist dokumentiert auf zwei CDs und besteht aus acht „Parts“ und vier Standards; insgesamt 97 Minuten.
Wie schon in anderen Solo-Aufnahmen nach 2000 wirken die Improvisationsgleise bei Jarrett kondensierter als bei den Lang-Improvisationen aus der Zeit davor (beginnend mit dem „Bremen Concert“ und endend mit „A Multitude of Angels“) – oder anders: sie sind schlicht kürzer. Zwischen den „Parts“ wechselt Jarrett die musikalischen Hemisphären wie bei einer Art Solo-Suite. Es gibt nicht gerade allzu viele Pianist*innen, die über ein derlei umfangreiches Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten verfügen und es jeweils technisch und praktisch umsetzen können: Das reicht in der Aufnahme aus Venedig von 2006 von wild huschender Ein- und Zweistimmigkeit und akkordischen Flächenclustern (Part II) auf engem Raum in unter vier Minuten, über rest-ostinate Grooves (Part III) oder liedhaft-balladeske Episoden (Part IV) bis zu blues-folkigen Musik(ab-)gründen (Part VIII).
Ergänzt wird das alles mit den vier Standard-Interpretationen („My Wild Irish Rose“, „Stella By Starlight“, „The Sun Whose Rays“ und einem eigenen „Blossom“) – ganz und gar wie immer ausgeleuchtet: Kenner-Liebhaber-Fan-Musik.
Eine musikalische Überraschung ist da bei alledem, was Jarrett unterdessen hat aufnehmen lassen, nun nicht. So insgesamt gesehen. Aber es ist andererseits doch so, dass hinter jeder Bewegung jeweils immer eine wartet, erhört und entdeckt zu werden. Man kann in den Spielfluss einsteigen und sich mitziehen lassen. Man kann aber auch auf einem Steg stehen und den Fluss unter sich durchfließen lassen. Und man kann fast jeden Moment auch in den Fluss hinabtauchen, der mal mehr von sich preisgibt und mal doch etwas trübe bleibt. Und wahrscheinlich kann man noch viel mehr …
Eine typische Aufnahme für Ihre Zeit.
Keith Jarrett: La Fenice :::
ECM 2601