25. Oktober 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Paul Lewis – Johannes Brahms

Paul Lewis – Johannes Brahms
Paul Lewis – Johannes Brahms
«Über die Titel bin ich mir eigentlich gar nicht im klaren», schrieb Johannes Brahms seinem Verleger über die letzten seiner Klavierwerke. So findet man unter den Fantasien op. 116 erstaunlicherweise eine Folge von Capriccios und Intermezzi, unter den Stücken op. 118 je eine Ballade und Romanze sowie weitere Intermezzi, unter den Stücken op. 119 sind es neben einer Rhapsodie nochmals drei Intermezzi. Das Opus 117 versammelt allein drei Intermezzi. So viele «Zwischenspiele» gab es im 19. Jahrhundert am Klavier wohl nur selten. Und es wird noch komplizierter, denn die Anordnung der Stücke innerhalb der Sammlungen ist nicht dem Zufall überlassen. Zugleich mischen sich neue Sätze mit Themen und Motiven aus offenbar älteren Skizzen und Entwürfen. Brahms die wissenschaftliche «Spurensicherung» wieder einmal vor kaum lösbare Aufgaben gestellt.

Hingegen leuchtet Paul Lewis, der über viele Jahre hinweg schon weite Teile des Klavierrepertoires des 19. Jahrhunderts für das Label harmonia mundi eingespielt hat, die insgesamt 20 Nummern in wahrlich beeindruckender Weise aus. Sein Ansatz vereint dabei eine Klarheit im Anschlag und der äußeren Gestaltung mit einer inneren poetischen Durchdringung. Wer sich allein an Tönen ergötzen möchte, ist hier ebenso falsch wie der reine Analytiker. Lewis eröffnet damit (wie schon vor mehr als zehn Jahren bei Schubert späten Sonaten) einen doppelten Zugang – ein interpretatorischer Weg, der gleichermaßen intellektuelle Kapazität wie emotionale Durchdringung erfordert. Ein Spiel mit scheinbar gegensätzlichen musikalischen Polen, das in jedem Moment Kontrolle und Freiraum fordert. Daher laden die Aufnahmen von Paul Lewis immer wieder zum neuen Hören ein – so auch dieses Brahms-Album, das einen Schlüssel zum komplexen Spätwerk darstellt.

Johannes Brahms. Fantasen op. 116; Intermezzi op. 117; Stücke op. 118; Stücke op. 119
Paul Lewis (Klavier)

harmonia mundi HMM 902365 (2018, 2019)

HörBar<< Leif Ove Andsnes – Antonín DvořákVíkingur Ólafsson – from afar >>

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    View all posts
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden - entweder täglich oder mit den Rezensionen der vergangenen Woche am Sonntag.

Liste(n) auswählen:
DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #166 – Am Klavier

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden.