27. Oktober 2025 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Nikolai Kapustin – Blueprint

Nikolai Kapustin – Blueprint
Nikolai Kapustin – Blueprint
Mit dem Ersten Weltkrieg kamen die ersten Jazzbands nach Europa. Und sofort zogen die absolut neuen und unverbrauchten Rhythmen und Töne in viele Kompositionen der jungen Generation ein. In den 1930er Jahren kam es dann im Umkreis von Benny Goodman sogar zu verblüffenden synergetischen Effekten. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste die Idee allerdings erst wieder auf einer anderen Stufe neu entdeckt werden. Sogar in der Sowjetunion wurde damals im Konzert gejazzt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist Nikolai Kapustin (1937–2020), der seine spät einsetzende Anerkennung nicht mehr ganz erleben konnte. Neben sechs veritablen Konzerten und 20 Sonaten entstanden auch eine ganze Reihe von Werken, die man zweifellos dem Jazz zuordnen würde,…

… wobei dann aber doch zu berücksichtigen ist, dass diese nicht verkürzt notiert und improvisiert sind, sondern (und das ist wirklich verblüffend) vollständig niedergeschrieben wurden. Kapustin selbst liefert dafür die Begründung: «Ich war nie ein Jazzmusiker. Ich habe nie versucht, ein wahrer Jazzpianist zu sein, aber ich musste es sein, um des Komponierens willen. Ich interessierte mich nicht für Improvisation – und was wäre ein Jazzmusiker ohne Improvisation? Alle Improvisation meinerseits ist natürlich niedergeschrieben, und sie ist dadurch viel besser geworden; es ließ sie reifen.» Puristen mögen dies als störend empfinden, doch man kann die Sichtweise auch umdrehen: Wer das alles so genau niedergeschrieben hat, muss schlichtweg ein gutes Stilgefühl und eine herausragende Schreibtechnik haben. Und wer das dann so spielt, als wäre es nicht notiert, löst gewissermaßen ein Versprechen des Komponisten ein. Insofern stellt das Album Blueprint mit dem Frank Dupree Trio eine Besonderheit dar – eine Besonderheit, die musikalisch wie interpretatorisch schlichtweg Spaß macht und nicht überhört werden sollte.

Blueprint. Piano Music for Jazz Trio
Nikolai Kapustin. Sunrise (Daybreak) op. 26; Concert Studies op. 40/1, 2, 7, 8; Variations op. 41; Motive Force op. 45; Big Band Sound op. 46; Jazz-Preludes op. 53/1, 3, 4, 6–9, 11, 13, 15, 19, 23; The End of the Rainbow op. 112; Paraphrase on «Blue Bossa» op. 123; Paraphrase on «Aquarela do Brasil» op. 118
Frank Dupree Trio

Capriccio C 5439 (2020)

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

    View all posts
hoerbar_nmz

Der HörBar-Newsletter.

Tragen Sie sich ein, um immer über die neueste Rezension informiert zu werden - entweder täglich oder mit den Rezensionen der vergangenen Woche am Sonntag.

Liste(n) auswählen:
DSGVO-Abfrage*

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.

Teil 1 von 1 in Michael Kubes HörBar #168 – jazzy

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden.