Trio BoccheriniBetrachtet man die Liste der hier eingespielten Werke, gewinnt man den Eindruck, Ungarn sei ein Land des Streichtrios gewesen. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es sich bei den vier eingespielten Werken allein dem Titel nach um zwei Serenaden (László Weiner und Dohnányi), ein Intermezzo (Kodály) sowie ein «Streichtrio» handelt, das Leó Weiner noch als Student an der Franz-Liszt-Akademie komponierte. Es handelt sich um eine Mischung der Gattungen (neutral nach Besetzung vs. atmosphärische offene Form), wie sie sich auch bei László Lajtha (1892–1963) finden lässt. Dieses Phänomen wird freilich im viel zu groß angelegten Booklet-Essay von Jean-Pascal Vachon nicht angesprochen.
Überraschend ist auch die etwas schüttere Künstlerbiografie des Ensembles; selbst auf der Homepage des Trio Boccherini finden sich nur Hinweise zu den Musiker:innen selbst. Das Ensemble vermag hingegen mit seinen gediegenen Interpretationen zu überzeugen, wenngleich die räumlich eingefangene Akustik der Kirche im schwedischen Lännaby kontraproduktiv wirkt. Ein Streichtrio ist und bleibt eine Kammerbesetzung, auch in einem konzertanten Setting. Dadurch geht einiges verloren: der Zusammenklang des Ensembles (die Brüchigkeit im Adagio von László Weiner zerfällt in einzelne Linien und Einwürfe), so wie etwa auch der markante Marschrhythmus im ersten Satz der Serenade von Dohnányi. Wie stark die Akustik den Gesamtklang beeinflusst, zeigt ein Vergleich mit der Einspielung der Werke von Beethoven, die das Trio Boccherini vor wenigen Jahren bei Genuin herausgebracht hat – nämlich als wirkliche Kammermusik
Hungarian String Trios
Leó Weiner. Streichtrio G-Dur op. 6 (1908); László Weiner. Serenade (1938); Zoltán Kodály. Intermezzo (1905); Ernst von Dohnanyi. Serenade C-Dur op. 10 (1902)
Trio Boccherini BIS Records BIS-2107 (2023)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.