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Viktoriia Vitrenko – Limbo

Viktoriia Vitrenko – Limbo
Viktoriia Vitrenko – Limbo

Die ukrainische Sängerin und Dirigentin Viktoriia Vitrenko hat das Doppel-Vinyl-Album LIMBO bei Kyiv Dispatch veröffentlicht, einem neuen ukrainischen Label, das sich der experimentellen und zeitgenössischen klassischen Musik widmet. Dabei handelt es sich um eine, sonst würde man sagen, bunte Mischung aus Kompositionen für Klavier und Stimme. Nur, „bunt“ sind eher die Zugangsweisen der Kompositionen und ihre spezielle Klanglichkeit. Fünf Komponist:innen (Agata Zubel, Alla Zagaykevych, Ying Wang, Sven-Ingo Koch, Maxim Shalygin) stehen dafür.

Ich mache jetzt etwas, was ich sonst nicht tun würde, ich zitiere die Beschreibung der fünf Werke direkt aus dem Text der dieser Produktion beigelegt worden ist:

«Agata Zubels ‹3 Songs› geben den Ton an und evozieren durch eine freie Gesangslinie und ein präpariertes Klavier eine dichte Atmosphäre. Der verhaltene Beginn steigert sich von introspektiver Zurückhaltung bis hin zur Dringlichkeit, durchsetzt mit jazzigen Klangfarben, die das Gefühl des Eingeschlossenseins verstärken.

Alla Zagaykevychs ‹Signs of Presence› bewegt sich von der individuellen in die kollektive Vorhölle und erklingt mit prophetischer Klarheit. Basierend auf Gedichten von Iya Kiva, die 2014 aufgrund der russischen Aggression ihre Heimat in Donezk verlor, thematisiert das Werk Orientierungslosigkeit, Entwurzelung durch den Krieg und die Last des Überlebens. Der Zyklus verbindet idiomatische Neue Musik mit traditionellem ukrainischem Gesang – ein Markenzeichen von Zagaykevychs Praxis. Die ersten beiden Lieder wechseln zwischen geflüstertem Gesang und Sprechgesang, wobei die Stimme zitternd und zerbrechlich bleibt. Das dritte Lied erfordert hingegen einen Wechsel zu einem volkstümlichen, lauten, fast katatonischen Vortrag, der nach Atem ringt: Der Schmerz ist hier ungefiltert.

Ying Wangs ‹Illuminations› konfrontiert die systemischen Ungerechtigkeiten, die die Vorhölle aufrechterhalten, und greift auf Texte politischer Dissidenten, darunter Maria Kalesnikava, zurück. Durch den Einsatz von Megaphonen, selbstbewussten Proklamationen und perkussiven Klavierlinien lehnt das Werk die Lähmung zugunsten des Protests ab. Es ist das einzige elektroakustische Werk in LIMBO und setzt Direktheit vor Raffinesse.

Sven-Ingo Kochs ‹Simple Songs und Lieder des Verzehrens› verweilen in surrealistischer Schwebe. Die Vertonungen von Jan Wagners Gedichten balancieren zwischen üppigen Bildern und beunruhigender Alltagsabsurdität. Unter der rhythmischen Eleganz und dem schrägen Humor lauert eine beunruhigende Unterströmung von Gewalt, die sich zwischen Belcanto, Chanson und gesprochener Unmittelbarkeit bewegt.

Maxim Shalygins ‹Songs of Holy Fools› dient als Abschlusswerk, das die Vorhölle als Zustand des persönlichen und existenziellen Übergangs begreift. Das zwischen 2009 und 2010 während seines Umzugs von der Ukraine in die Niederlande entstandene Werk erforscht Identität und Zugehörigkeit. Vitrenkos fragile Stimme schwebt am Rande des Körperlichen und navigiert durch minimalistische, von Mystik durchdrungene Klanglandschaften. Die Verwendung der russischen Sprache verstärkt die emotionale Komplexität des Werks.»

Dieses Album beginnt mit repetierten Tönen auf einem präparierten Klavier. Es ist Einzelschläge mit Abklingpausen, ehe die Stimme hinzutritt. Viktoriia Vitrenko ist hier wie auf dem ganzen Album für beides zuständig. Es kommt alles aus einem Körper. Und das erzeugt hier mit dem ersten Ton (Klang) eine ganz besondere Verbindlichkeit und Präsenz, der man sich hörend weder entziehen kann noch entziehen möchte. Zubels Komposition ist dabei ebenso redend, wie – ja – schweigend. Und im dritten Stück sehr schmerzend. Das muss man schlicht auf sich wirken lassen, die ehedem fast meditative wirkende Übung endet attackierend, bedrückend, lastet schwer.

Dazu sollte man wissen: «LIMBO ist eine Reise durch die Ungewissheit und ein sehr persönliches Projekt, das sich mit dem Stillstand des Wartens auseinandersetzt. Es ist Vitrenkos Freundin und Kollegin, der Flötistin und politischen Aktivistin Maria Kalesnikava, gewidmet, die aufgrund ihrer Beteiligung an den Protesten von 2020 eine elfjährige Haftstrafe in Belarus verbüßt.» Das ist noch zu freundlich formuliert, als sei Maria Kalesnikava Strafe im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahren erfolgt. Es ist eine totalitäre Abstrafung und ein Versuch von staatlicher Einschüchterung und Folter.

Mit dem Thema insgesamt nimmt es Vitrenkos Album insgesamt auf. Und jede der fünf Kompositionen findet in Vitrenkos Performance einen virtuosen, selbstlosen Widerhall und wird damit zu einem seltenen Zeugnis gelungenen politisch-artifiziellen Engagements in dieser kaputten Zeit. Rashad Beckers Abmischung reflektiert das alles und überführt das an sich thematische «Singer-Songwriter»-Setting auf eine zusätzliche akustische Ebene. Insbesondere deutlich bei Ying Wangs «Illuminations». Beeindruckend, bedrückend, aber auch frei!

Eher aus der Sphäre der Klavierliedtradition sind die beiden Kompositionen von Maxim Shalgygin und Seven-Ingo Koch zu sehen, was in dem Gesamtzusammenhang aber gleichwohl eine neue Hörbarkeit erzeugt. Die Zurückgenommenheit bei Shalygin ist ja chronologisch aus der Zeit der «Vorhölle», wie es Viktoriia Vitrenko nennt. Bei Sven Ingo-Kochs «Simple Songs & Songs of Pining» öffnen sich die Türen der feinsten Gesangsschatten und wie beim «Marder» mixen sich Expressivität und bodenlose Schwebungen, was für Herausforderungen!

Das Album ist bei «Kyiv Dispatch» herausgekommen. Auch das ist eine Unmöglichkeit in diesen Zeiten und damit umso wertvoller.

Auch Verzweiflung braucht Ausdruck. Auch Durchhalten und Mut brauchen eine Stimme. Auch in dunklen Zeiten bedürfen wir der Kunst und solcher, manchmal die Türen über den Spalt der Hoffnung herausstürmenden und türöffnenen, Musik und Performance. Viktoriia Vitrenko und ihrer Darstellung der fünf Kompositionen gelingt das auf eine freundlich-bestimmte Art und Weise geradezu souverän.


Viktoriia Vitrenko – Limbo [2025]

  • Agata Zubel: 3 Songs (*2021) for voice and prepared piano
  • Alla Zagaykevych: Signs of Presence (*2021) for voice and piano. Set to the poems by Iya Kiva I-III
  • Ying Wang: Illuminations (*2022) for piano, voice, and electronics I-II – I Nan, set to the text by Gen Xiaonan, II Maria, set to the text by Maria Kalesnikava
  • Sven-Ingo Koch: Simple Songs & Songs of Pining (*2021-2022) for voice and piano. Set to the poems by Jan Wagner
  • Maxim Shalygin: Songs of Holy Fools (*2009-2010) for female voice and piano. I, II, III, IV, VI: Songs I, III, IV, VI are set to the author’s texts. Song II, More gentle than what’s gentle, is set to a poem by Osip Mandelstam

Viktoriia Vitrenko, voice, piano

Kyiv Dispatch, 2025 (Doppel Vinyl: VÖ: 17.02.2025 – Digital: VÖ 02.04.2025)

Autor

  • Martin Hufner. Foto: Kurt Hufner

    Martin Hufner ist Musikjournalist, Musikwissenschaftler, Blogger. Er betreut nebenbei die Online-Redaktion der neuen musikzeitung.

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