Bach / Alexander GrychtolikBach am Karfreitag. In der Regel assoziiert man damit Aufführungen der Johannes- oder der Matthäuspassion. Man denkt auch an die alten, unter Chorsänger:innen immer noch etablierten Peters-Klavierauszüge (mit ihrer hervorragenden Notenstich),, weniger jedoch an die Fassungen und die Frage ihrer Konsistenz. Das betrifft die Johannes-Passion (aufmerksamen Zeitgenossen werden sich dessen immer bewusster), aber auch die weniger im Fokus stehenden Kompositionen: Da wäre zunächst die Lukas-Passion (BWV 246) mit ihren merkwürdigen Brüchen (zwischen musikalischer Simplizität und späteren Bach’schen Eingriffen), dann aber auch das «Passionsoratorium» BWV Anh. 169 auf einen Text von Picander, den man mit einer möglichen geplanten Aufführung im Jahre 1725 in Verbindung bringt. Das wird auch von Alexander Grychtolik in seinem Booklet-Essay ausführlich erläutert – auch wenn am Ende mehr Fragen offen bleiben als beantwortet werden.
Und so handelt es sich auch bei dieser Einspielung des «Passionsoratoriums» BWV Anh. 169 um einen Versuch, das gedruckte Libretto von Picander mit vorhandener Musik und eigenen Rekonstruktionen oder stilistisch adäquaten Neukompositionen zu füllen. Die im Booklet beigeführte Liste der Übernahmen ist dabei recht aufschlussreich (wer es nicht ohnehin direkt hört), vor allem aber wird deutlich, was wirklich fehlt und ergänzt werden musste (das numerische Verhältnis lässt sich als 1:1 beschrieben). Wie aber ist dann diese Produktion des «Passionsoratoriums» zu bewerten? Musikalisch ist alles auf einem fraglos hervorragenden Niveau gespielt und gesungen. Doch ist es richtig, auf dem Cover allein mit «J.S.Bach» ins Feld zu ziehen, wo doch nicht nur bloß textlich angeglichen werden usste, sondern auch kompositorisch eigenständig neues geschaffen wurde? So eindrucksvoll sich das liest, so sehr drängen sichh beim kritischen Hören die ernsten Fragen in den Vordergrund. Und irgendwie ist man dann doch bei den überlieferten Geschehnissen am Karfreitag angekommen. Viele Fragen bleiben offen…
Johann Sebastian Bach. Passionsoratorium BWV Anh.169 (rekonstruiert und vervollständigt von Alexander Grychtolik)
Miriam Feuersinger (Sopran), Jana Pieters (Alt), William Shelton (Alt), Daniel Johanssen (Tenor), Tiemo Wang (Bass), Jonathan Sells (Bass), Il Gardellino Choir, Il Gardellino Orchestra, Alexander Grychtolik Passacaille PAS 1152 (2023)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.