14. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Das Neue Orchester / Christoph Spering

Das Neue Orchester / Christoph Spering
Das Neue Orchester / Christoph Spering
Keine Vision, aber auch kein Trugbild. Diese Einspielung (3 CDs) mit nicht weniger als neun Kantaten kommt äußerlich denkbar bescheiden daher, überzeugt aber interpretatorisch auf ganzer Linie. Schon auf dem Cover sind nur die entsprechenden BWV-Nummern vermerkt, erst im Booklet erfährt man eher beiläufig, dass es sich um eine Auswahl aus dem sogenannten Choralkantaten-Jahrgang handelt, den Bach 1724/25 konzipierte und dennoch nicht vollständig mit allen Werken bestückte (über die Gründe wird bis heute spekuliert). In der Mehrzahl kommen hier eher selten gespielte Kantaten zum Zuge, und Christoph Spering ist durchaus zuzustimmen, wenn er in seinem Vorwort von einem musikalischen «Kosmos» spricht. Zudem räumt er mit einigen aufführungspraktischen Glaubenssätzen auf, insbesondere was die Begleitung von Rezitativen betrifft.

Das liest sich wie ein pragmatischer Ansatz, der von der Kenntnis der Quellen, aber auch von den Kompositionen selbst inspiriert ist. Das interpretatorische Ergebnis bestätigt diesen erstaunlich modernen Weg. Spering verkünstelt mit seinen Solisten nichts, er lässt seinem Chor Raum für weit geschwungene Linien und eigene Akzente, er formt den Orchesterklang mit beeindruckender Präzision und Klarheit und doch angenehm warmem Ton. Damit hebt sich die Einspielung von manch anderer scheinbar progressiven Aufnahme ab und rückt die Werke selbst wieder in den Mittelpunkt. Das fesselt die Aufmerksamkeit, zumal alle Parameter (auch die sehr angenehme, fast direkte Akustik) stimmen. Mit dem Eingangschor der Kantate BWV 101 («Nimm von uns, Herr, du treuer Gott») fremdle ich dennoch, denn hier hat Harnoncourt einst eine verblüffende Interpretation vorgelegt, die in ihrer dissonanten Kantigkeit und Dringlichkeit kaum einzuholen sein wird – hier wie anderswo. Nach den Luther-Kantaten (2017) ist dies die zweite Bach-Kantaten-Produktion von Christoph Spering. Möge die nächste nicht lang auf sich warten lassen!

Johann Sebastian Bach. «Wie schön leuchtet der Morgenstern» BWV 1; «Liebster Gott, wann werd ich sterben» BWV 8; «Ich hab in Gottes Herz und Sinn» BWV 92; «Nimm von uns, Herr, du treuer Gott» BWV 101; «Was willst du mich betrüben» BWV 107; «Ach, lieben Christen, seid getrost» BWV 114; «Liebster Immanuel, Herzog der Frommen» BWV 123; «Ich freue mich in dir» BWV 133; «Wohl dem, der sich auf seinen Gott» BWV 139
Erika Tandiono (Sopran), Yeree Suh (Sopran), Sofia Pavone (Alt), Marie Seidler (Alt), Daniel Johannsen (Tenor), Georg Poplutz (Tenor), Tobias Berndt (Bass), Daniel Ochoa (Bass), Chorus Musicus Köln, Das Neue Orchester, Christoph Spering

deutsche harmonia mundi 19802800192 (2023)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 4 von 5 in Michael Kubes HörBar #136 – Bach. Kantaten

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