18. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Tüür / Paavo Järvi

Tüür / Paavo Järvi
Tüür / Paavo Järvi
Es mag angehen, dass noch im 21. Jahrhundert Sinfonien geschrieben werden –und fast möchte ich ein «wieder» hinzufügen. In den hektischen Jahrzehnten der Avantgarde war es kaum möglich, mit einer so bezeichneten Partitur Erfolg zu haben. Die Gattung schien überholt und mit Gustav Mahler (dessen 9. Sinfonie wie ein Schlusspunkt erschien, die 10. ging schon rätselhaft darüber hinaus) an ein gewisses Ende gekommen zu sein. Soweit die zentraleuropäische Perspektive. In Skandinavien wie auch im Baltikum tickten die Uhren etwas anders – zwar unterschiedlich, aber eben doch mit einem tiefen Blick in die Tradition und einer sehr eigenen Auseinandersetzung mit der Bezeichnung und der mit ihr verbundenen großen Form. Bei Allan Pettersson ist die Nr. 9 (1970) denn auch monumental einsätzig – sie schließlich demütig mit einer einfachen plagalen Wendung ab, gleichsam einem «Amen».

Auch bei Erkki-Sven Tüür (*1959) braust die Neunte in einem Zug dahin – und verstummt dann doch fragmentarisch. Wie es sich heute wohl für eine «Nr. 9» gehört, handelt es sich um das Ergebnis eines gewichtigen Auftrags; hier aus der Staatskanzlei zum 100. Geburtstag der Republik Estland (2018). Dennoch verbog sich Tüür nicht unter der Last der Bedeutung. Er verzichtete auf einen Chor wie auch auf ein plakatives Programm – und entwickelt die Partitur trotz des in viele Richtungen auslegbaren Titels Mythos ganz von der formal-technischen Seite her. Mehr geräuschhafte Präsenz hat das kurze Stück Incantation of Tempest (2014), ursprünglich ein «Encore!»-Werk für die Bamberger Symphoniker; von der Klimakrise wurde hingegen Sow the Wind… (2015) inspiriert. – Paavo Järvi und das Estonian Festival Orchestra, hörbar vertraut mit Klang und Atem von Tüürs Tonsprache, interpretieren engagiert (und tragen nicht bloß vor). Dennoch vermisse ich eine erkennbare gestische Individualität der Werke. Aber das ist eine andere Art der Kritik.

Erkki-Sven Tüür. Sinfonie Nr. 9 «Mythos» (2017); Incantation of Tempest (2014); Sow the Wind… (2015)
Estonian Festival Orchestra, Paavo Järvi

Alpha ALP 595 (2016, 2018, 2019)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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