Fast genau 30 Jahre ist es her, dass das Label cpo alle vier Klavierkonzerte von Carl Reinecke als Doppelalbum herausbrachte – damals eine Sensation. Heute sieht es für Klavierkonzerte aus dem langen 19. Jahrhundert insgesamt besser aus – nicht zuletzt dank der einzigartigen Reihe The Romatic Piano Concerto (Hyperion), die aus den heimischen Regalen nicht mehr wegzudenken ist. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, warum Reinecke, immerhin einer der bedeutendsten Namen jener Epoche, erst in den Folgen 85 und 87 mit seinen Werken zu Ehren kommt. War es am Ende dann doch «nur» der bevorstehende 200. Geburtstag, der die Porduktion anregte und bestimmte?
Jedenfalls verlangen Reineckes Klavierkonzerte von jedem Solisten überzeugende Virtuosität, lassen sich aber musikalisch nicht darauf reduzieren. Vielmehr ist es auch hier die für Reinecke charakteristische Mischung von konservativen Elementen mit formaler Klarheit und romantischer Kantabilität, die interpretatorisch mehr fordern als reine Skalenläufe und weite Sprünge. Das zeigt sich besonders in den langsamen Sätzen, aber auch in der Wahl von seltenen Tonarten wie fis-Moll, e-Moll und h-Moll und den damit verbundenen Ausdrucksbereichen. Im Vergleich zu der älteren Aufnahme gelingt hier Simon Callaghan und dem Sinfonieorchester St. Gallen unter Medestas Pitrenas ein Spagat (etwa im mittleren Satz von op. 72) zwischen in sich ruhender Klassizität einerseits und intensiven Farben, solistischen Dialogen und harmonischen Weggabelungen andererseits. Gerade hier ist ein «Reinecke» zu entdecken, den man so gar nicht vermutet hätte. In den Ecksätzen fehlt den Interpreten indes der Mut, dies konsequent umzusetzen. Das Orchester «begleitet» eher, manchmal gar nur hölzern, als dass es ein eigenes Profil entwickelt.
Carl Reinecke. Klavierkonzert Nr. 1 fis-Moll op. 72; Klavierkonzert Nr. 2 e-Moll op. 120; Klavierkonzert Nr. 4 h-Moll op. 254
Simon Callaghan (Klavier), Sinfonieorchester St. Gallen, Medestas Pitrenas
Hyperion CDA 68339 (2021)