16. September 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Bruckner 9 / Jakub Hruša

Bruckner 9 / Jakub Hruša
Bruckner 9 / Jakub Hruša
«Was seine Zehnte […] sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muss fort. Es sieht aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.» – Schöne, beeindruckende Worte von Arnold Schönberg bei seiner Gedenkrede vom 25. März 1912 in auf den gerade verstorbenen Gustav Mahler. Und doch lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Beethoven hatte seine Nr. 9 vollendet (und die Nr. 10 noch lange nicht in Partitur begonnen), Mahler hatte seine Nr. 9 ebenfalls vollendet, die Nr. 10 blieb Fragment; das davor liegende Lied von der Erde kann aber durchaus als (ungezählt gebliebene) Vokal-Sinfonie gelten. Und Bruckner? Seiner Nr. 9 fehlt ein fertiges Finale – und doch ist sie, wenn man alle Partituren richtig zählt, am Ende die Nr. 11 (!). Wie im normalen Leben ist auch hier die Sachlage komplexer als in den poetisch-esoterischen Spekulationen.

Die Bamberger Symphoniker unter Jakub Hruša beteiligen sich glücklicherweise nicht an den Mutmaßungen über das Finale und an den Versuchen, es zu vervollständigen. Sie machen es wie bei Schuberts Sinfonie h-Moll: Man spielt, was sicher ist. Ohnehin verbindet beide Werke auf seltsame Weise eine gewisse Vollkommenheit im Unvollendeten, vergleichbar Mahlers Adagio der Nr. 10. Bruckners Neunte kommt dem Orchester, das seit vielen Jahren mit einem satten und doch durchhörbaren Ton ausgestattet ist, sehr entgegen. Hier wird in bester Weise an die Reger-Einspielungen unter Horst Stein (ab den späten 1980er Jahren) angeknüpft. Auch wenn die Produktion ein wenig traditionell anmutet und neue Sichtweisen nicht sofort zu hören sind, so ist es doch die bei aller Noblesse erreichte Plastizität, die diese Einspielung bemerkenswert macht; dies betrifft vor allem die golden strahlenden Blechbläser am Ende des Kopfsatzes. Dass mich die Aufnahme dennoch emotional weniger berührt als andere, mag an ihrer bis ins Detail ausgefeilten und akustisch abgerundeten Perfektion liegen. Aber das ist Geschmackssache.

Anton Bruckner. Sinfonie Nr. 9 d-Moll
Bamberger Symphoniker, Jakub Hruša

Accentus Music ACC 30605 (2022)

HörBar<< Bruckner 7 / Markus Poschner

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #126 – Bruckner 200