Viel zu selten erklingen noch immer die Sinfonien Nr. 1 und Nr. 2 im Konzertsaal. Das liegt nicht nur an den in einer Saison zur Verfügung stehenden Plätzen (bei nicht minder großer Konkurrenz); vielmehr haben sich die höher gezählten Partituren im Repertoire der Orchester und in den Ohren des Auditoriums etabliert. Sie wirken in sich geschlossener (über Fassungsfragen lässt sich freilich trefflich diskutieren), die früheren Werke aber haben etwas ganz Eigenes, kühn Experimentelles, etwas brennend Suchendes, bezaubernd Unmittelbares und Unerhörtes, das sich so nicht mehr wiederholt. Die unerschütterliche Kraft dieser Partituren spricht auch aus dieser Einspielung mit dem Gürzenich-Orchester Köln unter François-Xavier Roth. Hier wird Bruckners «keckes Beserl» tatsächlich frech und aufregend realisiert: mit aller Macht des Tutti-Klanges, forsch akzelerierenden Rhythmen, nachdenklichen Passagen und mitreißenden Steigerungen. Fast erschlägt einen diese Interpretation – aber wie sonst konnte sich Bruckner von seiner sinfonischen Gegenwart lösen? Dass auch die Tempi teilweise massiv (aber nicht unorganisch) angezogen werden, macht ein Vergleich der Spielzeiten deutlich: Mit weniger als 45 Minuten ist fast das Minimum dieser «Linzer Fassung» erreicht.
Nicht minder aufregend gestaltet Roth die von Bruckner formal bereits abgeklärtere Sinfonie Nr. 2, eingespielt ebenfalls in der ersten Fassung. Mehr noch als in der brodelnden Nr. 1 verfolgt Roth dabei einen entschlackten Klang in den Streichern mit nur sehr bewusstem Einsatz des Vibratos. Das führt schon im Kopfsatz zu einigen überraschenden Effekten, die das Werk in ätherische Höhen tragen – auch weil auf diese Weise die unterschiedlich kombinierten Gruppen des Orchesters tatsächlich einmal wie Orgelregister hervortreten. Ende 2020 noch in der stillen Corona-Zeit unter Abstandspflicht aufgenommen, ist von diesen erschwerten äußeren Rahmenbedingungen auf diesem Album kaum etwas zu spüren, wozu auch die hervorragende Tontechnik ihren Teil beiträgt. Dabei wirkt die Studioaufnahme der Nr. 1 etwas griffiger und präsenter als die der Nr. 2 in der (leeren) Philharmonie. Denke ich an die Jahre 2020/21 zurück, so war es vor allem die der Musik innewohnende Kraft, die viele Aufführungen zu etwas ganz Besonderem gemacht hat. Insofern kann man das Album auch als ein Dokument der in der Romantik so oft beschworenen Macht der Musik hören – sie tritt hier mit aller Vehemenz hervor.
Anton Bruckner. Sinfonie Nr. 1 c-Moll (Fassung 1868); Sinfonie Nr. 2 c-Moll (Fassung 1872)
Gürzenich-Orchester Köln, François-Xavier Roth
Myrios MYR 035 (2020)
- Bruckner «Nullte» / Rémy Ballot
- Bruckner 1+2 / François-Xavier Roth
- Bruckner 4 / Pablo Heras-Casado
- Bruckner 7 / Markus Poschner
- Bruckner 9 / Jakub Hruša