8. Oktober 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Bruckner «Nullte» / Rémy Ballot

Bruckner «Nullte» / Rémy Ballot
Bruckner «Nullte» / Rémy Ballot
Wenn es im Bereich der klassisch-romantischen Musik nur noch wenige wirkliche Ur- oder Erstaufführungen gibt, dann bastelt man sich eben welche. So wie mit diesem Album, zu dem der Musikmediziner Klaus Laczika als Executive Producer im Booklet eine eher als Grußwort angelegte Einleitung beisteuert. Zu hören ist Bruckners «Nullte», die durch ihn selbst «annullierte» Sinfonie d-Moll, eingespielt aus der neu erschienenen, von David N. Chapman im Rahmen der Neuen Gesamtausgabe herausgegebenen Neuausgabe: «Die Internationale Bruckner-Gesellschaft hat den Dirigenten Rémy Ballot und das Altomonte Orchester mit der Ehre der weltweiten Erstaufführung betraut.» Für Herausgeber eröffnet eine solche Perspektive ganz neue Möglichkeiten: Nicht mehr das Werk wird aufgeführt, sondern die gedruckte Edition und ihr erarbeiteter «Urtext». Dass man Laczika nicht beim Wort nehmen sollte, zeigt folgende Bemerkung: «Bekanntlich ist [sic] die Kompositionsgattung der Symphonie nach dem „Koloss“ der IX. Symphonie Beethovens in den Hintergrund verdrängt. Lediglich Brahms, Schumann und Mendelssohn widmen sich ihr.» Nun denn. Schöne Grüße an Louis Spohr, Niels W. Gade, Louise Farrenc, Franz Berwald, Anton Rubinstein, Camille Saint-Saëns… – um nur einmal ansatzweise in den 1840er und 1850er Jahren zu bleiben.

Dass die «Nullte» bereits Bruckners dritte Sinfonie war, ist nicht jedem geläufig. Sie entstand nicht nur nach der sogenannten Studiensymphonie f-Moll (1863), sondern auch nach der Sinfonie Nr. 1 c-Moll (1865/66). Im Kopfsatz nimmt sie jene Klangflächen vorweg, die sich später auch in den Sinfonien Nr. 3 und Nr. 9 wiederfinden – verdächtigerweise ebenfalls in d-Moll, einer für die Streicher klanglich sehr günstigen Tonart. Mit der Einspielung der «Nullten» hat Rémy Ballot mit dem Altomonte Orchester in der Stiftskirche St. Florian nun nach zehn Jahren seinen eigenen Zyklus abgeschlossen; kurioserweise ist die dazugehörende Box schon Ende 2023 erschienen. Hier wie in den anderen Einspielungen ist es die Weite des «authentischen» Raums, die ein Stück Authentizität vermittelt, ebenso wie der Livemitschnitt selbst, bei dem sogar das Räuspern und Klappern zwischen den Sätzen festgehalten wurde. Musikalisch verleiht Ballot dem Werk eine feierliche Ruhe (seine Tempi bewegen sich am unteren Rand des Möglichen), an den dynamischen Höhepunkten vermeidet er Extreme, was wohl der halligen Akustik geschuldet ist. Daher fehlt der Interpretation eine gewisse Kantigkeit und Schärfe (wie bei Paavo Järvi), den Streicherpassagen eine gewisse Sämigkeit (die etwa das Gewandhaushausorchester auszeichnet). Hier wird ein etwas anderer Bruckner ausgelotet.

Anton Bruckner. Sinfonie d-Moll «Nullte»
Altomonte Orchester St. Florian, Rémy Ballot

Gramola 99306 (2023)

HörBarBruckner 1+2 / François-Xavier Roth >>

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #126 – Bruckner 200