23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Thomas Selle

Thomas Selle
Thomas Selle
Dass es Salzwedel in der Altmark einmal zu musikgeschichtlicher Bedeutung bringen sollte, war nicht ausgemacht. Tatsächlich war es wohl eher ein Zufall, dass eine umfangreiche Handschrift mit knapp 250 Werken von Thomas Selle (1599–1663) und einigen seiner Zeitgenossen in die Stadt und die Kirchenbibliothek gelangte und sich hier erhalten hat. Das Besondere an den Manuskripten sind die über 400 Jahre alten Vermerke von Selle selbst, der Namen von Musiken vermerkte, seinen eigenen Part mit «ego» bezeichnete, sowie eigene Werke bewertete und wohl auch aussonderte («ist schlecht»); darüber hinaus finden sich zwischen den Noten Entwürfe zu Titelblättern von Druckausgaben und die Todesanzeige einer Tochter aus dem Jahre 1635. Selten fühlt man sich einem Komponisten jener Zeit so nah …

Die Kompositionen stammen aus Selles früher Zeit aus Heide und Wesselburen – damals wohlhabende Orte an der schleswig-holsteinischen Westküste; ab 1641 stand der im anhaltinischen Zörbig geborene Selle der gesamten Hamburger Kirchenmusik vor und führte sie zu einer ersten Blüte. Nur wenige seiner Werke sind überhaupt durch Einspielungen verfügbar – insofern kommt diesem Doppelalbum eine gleich doppelte Bedeutung zu: Selle wieder ins Bewusstsein zu rücken, ferner die herausragenden Qualitäten seiner frühen Werke hervorzuheben. Und sogleich stellen sich zahlreiche Fragen: Wie konnte ein Meister in Dithmarschen so profunde Kenntnis von neueren italienischen Entwicklungen haben? Welche Netzwerke bewirkten, dass Selle überhaupt nach Schleswig-Holstein gelangte? Aus welchen Gründen hat sich ausgerechnet dieses eine Konvolut erhalten? Der vorzüglich geschriebene Booklet-Text von Monika Mandelartz, die bei der Einspielung neben der Leitung auch diverse Instrumente übernahm, liest sich in diesem Sinne instruktiv – ohne Spekulationen, sondern dicht an der Biographie und den Werken. Das Motto «So frewe dich!» fasst auch die interpretatorischen Qualitäten und das Reflexionsniveau der Produktion bestens zusammen.

Thomas Selle. «So frewe dich!»
Musik aus der Selle-Handschrift der Kirchenbibliothek Salzwedel
Kyrie summum teutsch SW 68; Nunc dimittis SW 60; Ich dancke dem Herrn von gantzem hertzen SW 35; Ach ist nicht Ephraim SW 82; Misericordias SW 37; Das alte Jahr vergangen ist SW 120; Et cum spiritu SW 232; Wie eine Rose SW 156; Wie ein Jüngling SW 162; Aria 2 SW 237; Ich suchte des Nachts SW 19; So frewe dich Jüngling SW 20; Quam pulchra es SW 64; Ut, re, mi; Wie manchesmahl SW 230; Aria 1 SW 236; Du bist die Schönste SW 166; Jetzt blicken aus des Himmel Saal SW 231; Johann Steurlein. Das alte Jahr SW 8; Philipp Crusius. O Nomen Jesu SW 48; Nicolaus Heineccius. Allein Gott in der Hohe SW 83; Heinrich Grimm. Liebe du mich SW 117

Coviello Classics COV 92107 (2019/20)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 3 von 5 in Michael Kubes HörBar #109 – Musica Baltica