23. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Musik aus dem alten Stralsund

Musik aus dem alten Stralsund
Musik aus dem alten Stralsund
Auf dem Cover der Einspielung gibt ein Kupferstich einen guten Eindruck von der alten Hansestadt Stralsund. Aber nur wer einmal selbst in der großartigen Marienkirche, der massiv mit ihren Türmen aufragende Nikolaikirche oder der Jacobikirche stand, wird ermessen, welche wirtschaftliche Bedeutung der Stadt am Strelasund einst zukam. Freilich: Als Eucharius Hoffmann (1540–1588), Johann Vierdanck (1605–1646) und Caspar Movius (1610–1671) hier wirkten, war die mächtige Hanse längst Geschichte – nur der Stolz sowie die alten, bewährten Verbindungen in den gesamten Ostseeraum waren geblieben, und dies unter den schwierigen Bedingungen des Dreißigjährigen Kriegs. Als Johann Vierdanck Organist an der Marienkirche wurde, war Wallenstein längst abgezogen, die Stadt aber (immerhin bis 1814) zur schwedischen Provinz geworden.

Was nun das «Entdeckerlabel» cpo mit dieser ersten Folge der neuen Reihe Musik der Hansestädte vorlegt, ist wieder einmal außergewöhnlich. Zielsicher wird in diskographische terra incognita vorgestoßen und auf herausragendem Niveau ausgegraben, was viel zu lange verborgen lag. Was Manfred Cordes und sein ganz reales «Europäisches Hanse-Ensemble» hier eingespielt haben, ist einfach nur beeindruckend – was die Musik betrifft, aber auch mit Blick auf die Interpretation. Es ist eine pure Freude, all den Streichern, Zinken und Posaunen zuzuhören – und einem stimmigen Vokalensemble, das trotz der solistischen Besetzung chorisch klingt. Erstaunlich, was Vierdanck trotz des Krieges einst in Greifswald drucken ließ, erstaunlich auch, dass diese großartige Musik bisher kaum rezipiert wurde. Die neue Reihe wird mit Sicherheit noch weit mehr Schätze aus der Musica Baltica heben – einem Repertoire, das offenbar bisher mehr Experten als Liebhabern bekannt ist. Es ist an der Zeit, die Türen und Tore zu diesem Fundus auch klingend zu öffnen.

Musik der Hansestädte Vol. 1:
Musik aus dem alten Stralsund
Johann Vierdanck. Das ist ein köstlich Ding, Meine Harfe ist zur Klage geworden, aus: Erster Theil Geistlichen Concerten, 1641; Ich freue mich im Herren (1643); Der Herr Zebaoth ist mit uns, Sonata à 4, Capriccio in a, Ich suchte des Nachts, Sonata in d, Ich beschwöre euch, aus: Ander Theil Geistlicher Concerten, 1643; Caspar Movius. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, aus: Triumphus Musicus, 1640; In dich hab ich gehoffet, Herr, aus: Hymnodia Sacra, 1639; Gott ist unser Zuversicht und Stärke; Mein Gott, warum hast du mich verlassen; Eucharius Hoffmann. Doce me, Domine, Cantabo Domino, Vigila super nos, Desine ab ira, aus: XXIV Cantiones, 1577
Europäisches Hanse-Ensemble, Manfred Cordes

cpo 555 578-2 (2022)

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Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 5 von 5 in Michael Kubes HörBar #109 – Musica Baltica