Ist die musikalische Deutung der in den vier Evangelien überlieferten Passionsgeschichte aus der protestantischen Liturgie des Karfreitags nicht wegzudenken, so sind es auf römisch-katholischer Seite die heute weniger präsenten Vertonungen der alttestamentlichen Klagelieder Jeremias. Während sie im jüdischen Glauben die Erinnerung an die Zerstörung des Salomonischen Tempels in Jerusalem wach halten, haben sie im katholischen Zeremoniell als durchgehend lateinischer Text ihren Platz in der frühen Matutin am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag gefunden. Vor allem in der Renaissance und im Barock kam es zu einer Reihe von Vertonungen – am bekanntesten wohl die von Carlo Gesualdo und Marc-Antoine Charpentier.
Auch Joseph-Hector Fiocco (1703–1741), der aus Brüssel stammt und zuletzt dort wirkte, schuf im Jahre 1733 während seiner Anstellung als Nachfolger von Willem de Fesch in Antwerpen einen vollständigen Zyklus der 3 x 3 Lamentationen. Stilistisch eine interessante Symbiose aus italienischen und französischen Elementen, ist vor allem die Hinzuziehung eines obligat geführten Violoncellos ein herausragendes Merkmal der Vertonung, wodurch ein kontrapunktischer Dialog mit der Singstimme entsteht. Dem Doppelalbum kommt aber auch ein dokumentarischer Wert zu, denn neben der vollständigen handschriftlichen Quelle (Brüssel) werden zwei der Lamentationes auch in einer abweichenden Lesart (Antwerpen) eingespielt; hier sind dann teilweise gar zwei Violoncelli gefordert. Vom Repertoire her stellt die Produktion fraglos eine lohnende Erweiterung dar. Wie eigentlich immer beim Label Ramée stehen Interpretation und technische Ausführung auf sehr hohem Niveau.
Joseph-Hector Fiocco. Lamentationes Hebdomadæ Sanctæ
Ana Vieira Leite (Sopran), Ana Quintans (Sopran), Hugo Oliveira (Bariton), Ensemble Bonne Corde
Ramée RAM 2105 (2021)