21. November 2024 nmz – HörBar – unabhängig / unbestechlich / phonokritisch

Josquin / Motets & Mass Movements

Josquin / Motets & Mass Movements
Josquin / Motets & Mass Movements

Vielleicht bedarf es wirklich erst des 500. Todestags, damit die Großartigkeit von Josquins Musik auch einem weiteren Kreis von Musikliebhabern bekannt wird. Ein breiteres Interesse mögen bisher wohl auch all jene Aufnahmen verhindert haben, die in den 1980er Jahren einen fast schon esoterisch anmutenden Wohlklang über die Kompositionen ausgossen – und damit entscheidende Aspekte der Musik negierten: ihre stets klare architektonische Disposition, die innere Dramaturgie, die einkomponierten Klangfarben und die jeweils einmalige Gestaltung. Knapp 40 Jahre später hat sich die Ästhetik verändert, haben sich die aufführungspraktischen Möglichkeiten erweitert. Zudem wird nicht mehr nur auf die großen Messen und Motetten zurückgegriffen. Das Brabant Ensemble etwa hat sich bei diesem Album großteils auf selten gesungenes Repertoire verlegt, auch einzelne Mess-Sätze finden Berücksichtigung (sie gelten sonst eher als «Spreu» und werden gerne dem Supplement zugewiesen).

Randvoll ist das Album mit einer Spielzeit von knapp 79 Minuten. Lang oder gar langweilig erscheinen einem die Werke indes zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil: selbst bei wiederholtem Hören fordern Musik und Interpretation bleibende Aufmerksamkeit. Zum einen konnte und wollte sich Josquin offenbar nie selbst kopieren, zum anderen gestaltet das Brabant Ensemble die einzelnen Werke (Partituren mag man aufgrund der Überlieferung kaum sagen) mit beeindruckender stimmlicher Präsenz und geradezu fordernder Nachdrücklichkeit. Zügig gehende Semibreven (Tempo) verbinden sich mit einer nicht vom Nachhall zugedeckten linearen Klarheit. Tonlich rückt vom Timbre her der mit Frauenstimmen besetzte Diskant (und Alt) zwar ein wenig in den Vordergrund, dennoch bleibt das Ensembles klanglich geschlossen. Neben reifen Werken aus Josquins letzten Jahren stehen solche aus früheren, darunter auch jeweils ein verblüffendes Gloria und Sanctus, die stilistisch noch der vorangegangenen Generation verpflichtet sind, aber auch ganz eigen wirken. Kluge Dramaturgie zeigt sich am Ende des Albums: kein Höhepunkt, sondern ein geradezu lakonisches «Osanna», das man so nicht stehen lassen möchte – und gerne noch einmal das Album von vorne beginnt. Schade nur, dass der lesenswerte Essay von Stephen Rice im Booklet lediglich in englischer Sprache abgedruckt ist und selbst auf der Homepage des Labels (derzeit) keine der sonst üblichen Übersetzungen angeboten wird.

Josquin Desprez. Motets & Mass Movements. Mittit ad virginem; Alma redemptoris mater / Ave regina caelorum; Huc me sydereo a 6; Stabat mater a 6; O bone et dulcissime Jesu a 6; Domine, ne in furore tuo … miserere; Usquequo, Domine, oblivisceris me?; Homo quidam fecit coenam magnam; Gloria de beata virgine; Sanctus de Passione
The Brabant Ensemble, Stephen Rice

Hyperion CDA 68321 (2020)

HörBar

Autor

  • Michael Kube

    Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.

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Teil 1 von 5 in Michael Kubes HörBar #048 – Josquin 500