Pierre Boulez – Piano WorksWie vollständig ist eine Edition, die sich Œuvres complètes nennt? Eine Frage, die sich angesichts dieses Albums aufdrängt, das mit der Einspielung von zwei frühen Werken die Perspektive auf Pierre Boulez und sein kompositorisches Schaffen bedeutend erweitert. Denn bei den Variationen für die linke Hand und den drei Psalmodien handelt es sich um Werke, die noch vor den Douze Notations entstanden sind. Sie sind komplex und zeigen, mit welcher Geschwindigkeit sich der 20-Jährige das Musikalische erarbeitete und es für sich neu organisierte: nicht in einer durchgehenden Reihe, sondern in einer Parzellierung, die ihm Freiheit in der Gebundenheit (et vice versa) gab.
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Darüber hinaus lässt sich in vielen Momenten der 13 Variationen auch erkennen, in welcher Verfasstheit sich der junge Boulez befand – gleichsam am Ende einer Musikgeschichte und eines noch unklaren Weges in die Zukunft. Die gelegentliche Ungeduld der Musik, ihr Rumoren, spiegelt sich freilich nicht im äußerst präzise und mit vollkommener Akkuratesse niedergeschriebenen Autograph wider, das wie aus einer viel entfernteren, weiter zurückliegenden Zeit erscheint. Schönberg wird hier nicht nur technisch, sondern auch im Ausdruck überwunden; in den Psalmodien ist es eher ein Weiterdenken aus der Schule Messiaens. Dass das Album neben dem Fragment d’une ébauche (einem späten «Gelegenheitswerk») auch Incises (chronologisch von der anderen Seite her gedacht) umfasst, mutet konsequent an. Allerdings erreicht die Aufnahme akustisch nicht ganz das Optimum. Die Tiefen des Flügels wirken seltsam neutral, das Instrument etwas zu sehr in den Raum geschoben.
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Pierre Boulez. Piano Works
Thème et variations pour la main gauche (1945); Trois Psalmodies (1945); Fragment d’une ébauche (1987); Incises (1994/2001)
Ralph van Raat (Klavier) Naxos 8.574398 (2018, 2021)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.