Pierre Boulez – AnthèmesDass sich einzelne Kompositionen von Pierre Boulez auch unmittelbar verständlich machen können, beweist diese ältere, noch immer als physisches Album erhältliche Einspielung von drei Werken, die kompositorisch (dem Material nach) oder auch technisch (in der Verwendung von Zuspiel und Live-Elektronik) in enger Beziehung zueinander stehen: Aus Anthèmes 1 für Violine Solo (1991 als Pflichtstück für einen Wettbewerb entstanden, wurde wenige Jahre später mit Anthèmes 2 (1995) eine komplexe Partitur, bei der damals neueste Verfahren computergenerierter Klänge in das Spiel eingreifen, es bereichern, es nach festgelegten Verfahren kommentieren. In den Dialogue de l’ombre double (1985) wurde dagegen noch mit einem vorproduzierten Zuspielband gearbeitet.
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Insofern dokumentiert das Album auch ein Stück Technikgeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts und zeigt, wie die damaligen Möglichkeiten Neues generierten. Einen vorzüglichen Zugang dazu bieten im Booklet die beiden einführenden Essays von Bernd Künzig und Michael Acker (aus tontechnischer Perspektive), die einem geradezu die Ohren öffnen für eine Musik, die von jeweils nur einem Instrumentalisten ausgeht, jedoch einen ganzen (Klang-)Raum durchmisst. Entsprechend wurde das Album als SACD produziert, aber auch in der Stereo-Abmischung gelingt auf faszinierende Weise eine Akustik, bei der man den Ton mitunter außerhalb der Lautsprecher zu hören glaubt. Carolin und Jörg Widmann verleihen den Werken in ihren bis ins Letzte durchdachten Interpretationen eine aus der Souveränität erwachsende spielerische Frische und Virtuosität, die schlichtweg fasziniert. Ein Album, das in mehrerer Hinsicht sehr lange Bestand haben wird.
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Pierre Boulez. Anthèmes 1 für Violine Solo (1991); Dialogue de l’ombre double (1985); Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik (1995)
Carolin Widmann (Violine), Jörg Widmann (Klarinette), SWR Experimentalstudio NEOS 12104 (2016, 2017, 2019)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.