Das Klavier (solo) steht wahrscheinlich nicht im ästhetischen Zentrum des Komponisten Helmut Lachenmanns, aber seit 1956 sind doch insgesamt sieben Kompositionen von ihm soweit überliefert, dass sie in den Kanon der veröffentlichten Werke gelangt sind. Ich würde mich in meinem jugendlichen Leichtsinn dazu versteigen, diese Kompositionen als die zentralen Nebenwerke schlechthin zu bezeichnen.
Dabei sind die historisch rahmengebenden Kompositionen, 5 Variationen über ein Thema von Franz Schubert (1956) und Marche fatale sowie die Berliner Kirschblüten (2016/17) in Grenzgebieten zur traditionellen Musik angesiedelt. Hier der kanpp 20-Jährige, dort der 80-Jährige. Paul Griffiths hat die historische Entwicklung in seinem Begleittext auch ein paar Punkte herausgearbeitet, die ein ungewöhnliches Licht auf dieses Klavierwerk werfen: Den Humor der Kompositionen, der sowohl unabkömmlich zu sein scheint, wenn man Grenzen der bislang rahmenden Klangwelt (hier des Pianos) überschreiten will – was denn anderes als kulturelle Aneignung ist es, wenn die Spieltechnik des Guero (1969!) auf das Klavier übersetzt wird, ja und, aber? – und auch den bitteren Schatten in traditionellen ästhetischen Fakturen aufdeckt, wie er beim Marche fatale oder den Berliner Kirschblüten sich offenbart.
Das ist auch beim Kinderspiel (1980) zu erkennen, und ein schalkhafter Spaß am Reduzieren, das zu einer «geraden Ästhetik» führt, bei dem mit geringem technischem Aufwand ein Höchstmaß an Effekt erzielt wird. Das Klavier, solo, mag geradewegs dazu verführen, als Instrument dies zu demonstrieren. Ebenso die Sache mit den Resonanzen durch Mitschwingklänge in Echo Andante und der Serynade, einer «Musik für Klavier» wie es im Untertitel heißt. Das ist alles ein Spiel mit dem Hörbaren, das das Unhörbare miteinschließt.
Über die beiden Spätwerke schreibt Griffiths:
«His piano could no longer speak, only laugh. Bitterly. Heartily. // Until the end, that is.»
Ist es so? Ist es nur noch ein Lachen von Lachenmann. Da möchte ich noch ein bisschen ausholen mit einer Bemerkung zu den Nebenwerken bei späten Schönberg, die Adorno auf diese Weise in seiner «Philosophie der neuen Musik» erschloss:
«Als Repräsentant der vorgeschrittensten ästhetischen Erkenntnis rührt Schönberg an deren Grenze: daß nämlich das Recht ihrer Wahrheit das Recht, welches noch dem schlechten Bedürfnis innewohnt, niederschlägt. Diese Erkenntnis macht die Substanz seiner Nebenwerke aus. Die Vergleichgültigung des Materials erlaubt es, beide Ansprüche intermittierend zusammenzubringen. Auch die Tonalität fügt sich der totalen Konstruktion, und für den letzten Schönberg ist es nicht durchaus entscheidend mehr, womit er komponiert. Wem einmal die Verfahrungsweise alles bedeutet und der Stoff nichts, vermag auch dessen sich zu bedienen, was verging und was darum selbst dem gefesselten Bewußtsein der Konsumenten offen ist. Nur freilich ist dies gefesselte Bewußtsein wieder feinhörig genug, sich zu schließen, sobald das abgegriffene Material vom kompositorischen Zugriff wahrhaft ereilt wird.»
[Band 12: Philosophie der neuen Musik: Schönberg und der Fortschritt. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 10155 (vgl. GS 12, S. 116)]
Der «Marche fatale», der in seiner Klavierversion sehr viel präziser derb daherkommt als in seiner Orchesterversion, wird so zum Zeitspiel, das eine geschichtliche Wiederholung anzeigt, die sich eben als Farce zeigt. Nur, auch hier ist die Feinhörigkeit ebenso vonnöten, die sich in Tönen aber vor allem der Machart darstellt. Das abschließende Versagen der Schlussakkordkadenz, das man weniger als Witz denn als Wutz lesen sollte, gehört dazu. Das rückt diese Musik geradewegs in die Welt der Operette der 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, bei der Versatzstückwerk zum Vorsatz-Werkstück wird. Das tote Material erhebt sich da und berauscht und verschlingt sich in einem Jetzt von 2015, das aktuell bleibt. Und doch auch, letzte Hoffnung, vergehen wird.
Bei den «Berliner Kirschblüten» ist das gar nicht so viel anders, wenn es das japanische Volkslied «Sakura, Sakura» mit der Berliner Luft «mashupt» und zum Ende hin in den tiefsten Registern des Klavier einen Cluster aus vier Tönen (a, b, h, c) aus einer gewalttätigen Zukunft vorgrollen und verschwinden lässt (eine präresonantische Musik). Fataler Humor: Beim Einspielen in meine digitale Bibliothek wird aus den Kirschblüten ein umlautfreies «Kirschbluten», fatal!
Jonas Olsson hat diese Stücke alle für das schwedische Label thanatosis eingespielt. Dort ist es einen Tag nach Helmut Lachenmanns 90. Geburtstag veröffentlicht worden. Die Musik bleibt herausfordernd auch beim Hören, aber sie wird exzellent pianistisch und akustisch vorgelegt.
Helmut Lachenmann – Complete Piano Works [2025]
- Jonas Olsson – Klavier
thanatosis Stockholm, Sweden (Compact Disc (CD) + Digitales Album VÖ: 28.11.2025)
Produced with support from Längmanska Kulturfonden, the Swedish Arts Council and Norrlandsoperan
Tracklist
1. 5 Variationen über ein Thema von Franz Schubert (1956) 06:29
2. Echo Andante (1961–62) 12:15
3. Wiegenmusik (1963) 03:30
4. Guero (1969) 04:16
5. Ein Kinderspiel (1980): Hänschen klein 01:07
6. Ein Kinderspiel (1980): Wolken im eisigen Mondlicht 01:53
7. Ein Kinderspiel (1980): Akiko 00:41
8. Ein Kinderspiel (1980): Falscher Chinese (ein wenig besoffen) 01:50
9. Ein Kinderspiel (1980): Filter-Schaukel 03:59
10. Ein Kinderspiel (1980): Glockenturm 01:54
11. Ein Kinderspiel (1980): Schattentanz 03:29
12. Serynade (1997-98) 28:34
13. Berliner Kirschblüten (2016–17) 03:58
14. Marche fatale (2016–17) 05:46










