Thomas SelleSchütz, Schein, Scheidt – und Thomas Selle. So ließe sich die Reihe der großen «S» in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ergänzen. Dass Thomas Selle (1599–1663) nicht regelmäßig dazugezählt wird, liegt wohl allein daran, dass nur Weniges von ihm über die Jahrhunderte gedruckt vorlag. Nur ein erster Band der von ihm selbst (!) in Angriff genommenen Opera omnia erschien im Druck – alle weiteren der 281 handschriftlich und platzsparend als neue norddeutsche Orgeltabulatur dokumentierten Werke blieben unveröffentlicht. Die mit Herausforderungen zu lesende präzise Kurzschrift hatte auf lange Sicht nunmal erhebliche Nachteile gegenüber gestochenen Partituren. Immerhin handelte Selle mit großer Weitsicht und vermachte der Hamburger Stadtbibliothek noch zu Lebzeiten seine eigene große Bibliothek; der musikalische Teil folgte bald nach seinem Tod.
Werbung
Einen Schritt weiter zurück geht diese Einspielung mit den Concertuum Latino Sacrorum (Liber Primus) aus dem Jahre 1646, einer Folge von teilweise nochmals über ein Jahrzehnt älteren geistlichen Konzerten im modernen italienischen Stil mit einem reich zu besetzenden Generalbass – «ein Corpus, als/ Orgal/ Regahl/ Clavicymbel/ Lauten/ Theorben/ etc.» Selle, seit 1641 hoch angesehener Kantor am Hamburger Johanneum, zeigt sich damit auf der Höhe einer Zeit, die schwierig genug war: Am Ende des Dreißigjährigen Krieges lagen weite Teile der deutschen Lande in Schutt und Asche, an eine geregelte Musik war kaum zu denken. Hamburg hingegen hatte als Handelsmetropole von allen Seiten profitiert. Die Stimmen der Stücke konnten denn auch in maximaler Flexibilität «als mit allerhandt Musicalischen besaiteten und blasenden Instrumenten in Kirchen und sonsten» aufgeführt werden. Obwohl durchgehend solistisch besetzt, verblüfft die Einspielung mit dem Göttinger Barockorchester (!) unter Antonius Adamske durch ihre anhaltende Farbigkeit und aufführungspraktische Frische.
Werbung
Thomas Selle. Concertuum Latino Sacrorum (Liber Primus)
Kerstin Dietl (Sopran), Benjamin Boresch (Altus), Janno Scheller (Bassus), Göttinger Barockorchester, Antonius Adamske Coviello COV 92302 (2021)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.