Leif Ove Andsnes – Antonín DvořákDvořák auf dem Klavier? Tatsächlich ist dieser Teil seines Œuvres nahezu unbekannt (wie übrigens auch viele seiner anderen Werke). Auch wenn Dvořák nach Auskunft seines Schwiegersohns Josef Suk kein virtuoser Pianist war, so trat er doch gelegentlich mit Kammermusik öffentlich auf. Sein Schaffen für Klavier aber hat es kaum auf die Pulte geschafft – und auch dieses Album mit den Poetischen Stimmungsbildern op. 85 verdankt sich nur den stillen Monaten der Corona-Zeit, in denen Leif Ove Andsnes die Zeit hatte, sich intensiv mit den 13 Stücken auseinanderzusetzen. Und da ist sie wieder – die stille Zeit, die hie und da dann doch etwas vollkommen Neues auf den Weg brachte…
Der kleine Zyklus der Stimmungsbilder entstand 1889 in der südböhmischen Sommerfrische – noch vor dem Engagement in die Neuen Welt, das bei Dvořák sinfonisch und kammermusikalisch einen neuen Ton und gewichtige Werke hervorbrachte. Dass er aber bereits zuvor eine neue Stufe seines Schaffens erreicht hatte, belegen die Klavierstücke ebenso wie die noch heute häufig gespielten Sinfonien Nr. 7 und Nr. 8 (op. 70 und op. 88). Warum aber ist von den Stimmungsbildern sonst so wenig zu hören? Es mag an der sich rasch vollzogenen Kanonbildung des Repertoires liegen, auch könnte der nationalromantische Einschlag und die gelegentlich fast orchestral anmutende Faktur hinderlich gewesen sein. Andsnes bricht nun eine Lanze. Man sollte dieses Album daher wirklich nicht vorschnell übergehen, auch wenn Andsnes mir trotz seiner unzweifelhaften technischen Fertigkeiten auch hier etwas zu kühl anmutet. Bergen ist nicht Prag, das Fjell nicht Böhmen. Europa bietet so unendlich viele Kulturen und Landschaften, die den spielerischen Vergleich aushalten, aber eben doch im wahren Herzen ganz individuell zu befühlen sind.
Antonín Dvořák. Poetické nálady (Poetische Stimmungsbilder) op. 85 B 161
Leif Ove Andsnes (Klavier) Sony 019439912092 (2021)
Dr. Michael Kube, geb. 1968 in Kiel, studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Europäische Ethnologie/Volkskunde. Promotion mit einer Arbeit über Hindemiths frühe Streichquartette (1996), Habilitation mit Studien zu einer Kulturgeschichte des Klaviertrios (2016). Seit 1998 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Neuen Schubert-Ausgabe (Tübingen), seit 2002 zudem Mitglied der Editionleitung. Er ist seit 2007 Kuratoriumsmitglied (und seit 2013 Vorsitzender) der Stiftung Kulturfonds der VG Musikedition.